Giorgio Agamben: Terrorismus oder Tragikomödie?

Am Morgen des 11. November umzingelten 150 Polizeibeamte, die meisten von ihnen Angehörige von Anti-Terror-Brigaden, ein 350-EinwohnerInnen-Dorf in der Hochebene von Millevaches, Frankreich, bevor sie einen Bauernhof stürmten, um neun junge Menschen festzunehmen (die die lokale Gemüsehandlung führen und versuchen, das kulturelle Leben des Dorfes zu beleben). Vier Tage später wurden die neun jungen Leute vor ein Anti-Terror-Gericht gestellt und „der kriminellen Verschwörung mit terroristischen Absichten angeklagt“. Nach Zeitungsberichten haben Innenministerium und Minister „der lokalen und nationalen Polizei für ihre Umsicht gedankt“.

Beginnen wir bei den Gründen:
Die jungen Leute, gegen die ermittelt wird, „wurden von der Polizei verfolgt, weil sie der Ultralinken und dem anarchistisch-autonomen Milieu angehörten“. Wie aus der Umgebung des Innenministeriums verlautet, „ist ihr Diskurs sehr radikal, und sie haben Kontakte zu ausländischen Gruppen“. Noch mehr: einige der Verdächtigen „nehmen regelmäßig an politischen Demonstrationen teil“, z.B. im Rahmen von Protesten gegen die staatliche Edvige-Datenbank (Exploitation Documentaire et Valorisation de l’Information Générale) und gegen die Intensivierung von Gesetzen, die die Immigration einschränken. Politischer Aktivismus (das ist die einzig mögliche Bedeutung solcher sprachlicher Monstrositäten wie „anarchistisch-autonomes Milieu“) oder die aktive Ausübung politischer Freiheiten und die Anwendung eines radikalen Diskurses sind also ausreichender Grund, um die Anti-Terror-Abteilung der Polizei (SDAT) und das zentrale Büro des inneren Nachrichtendienstes (DCRI) in Aktion treten zu lassen. In Anbetracht des Demokratie-Abbaus durch die Edvige-Datenbank, biometrische Technologien und die Verschärfung der Immigrationsgesetze müsste jedoch jedeR, der/die auch nur ein Minimum an politischem Bewusstsein besitzt, die Anliegen dieser jungen Leute zu teilen.
Was die Ergebnisse anbelangt, hätte man erwarten können, dass die untersuchenden Beamten Waffen, Sprengstoff und Molotov-Cocktails im Bauernhof in Millevaches gefunden hätten. Weit gefehlt. SDAT-Beamte fanden „Dokumente, die detaillierte Information des Bahnverkehrs enthielten, auch die exakten Ankunfts- und Abfahrtszeiten von Zügen“. Sprich: die Fahrpläne der nationalen Bahngesellschaft SNCF. Aber sie konfiszierten auch „Klettergerät“. Sprich: eine Leiter, wie man sie in jedem Landhaus finden kann.

Wenden wir unsere Aufmerksamkeit den Verdächtigten zu und vor allem dem unterstellten Kopf dieser terroristischen Bande, „dem 33-jährigen Anführer aus wohlhabenden Pariser Kreisen, der von Zuschüssen seiner Eltern lebt“. Es handelt sich um Julien Coupat, einen jungen Philosophen, der früher (mit einigen FreundInnen) Tiqqun herausgebracht hat, eine Zeitschrift, deren politische Analysen – wenn sie auch ohne Zweifel umstritten sind – zu den intelligentesten unserer Zeit zählen. Ich kenne Julien Coupat aus dieser Zeit und verbinde mit ihm meine bleibende intellektuelle Wertschätzung.

Untersuchen wir also weiters den einzigen konkreten Tatbestand in der ganzen Geschichte. Die Aktivitäten der Verdächtigten sollen mit böswilligen Handlungen gegen die SNCF in Verbindung stehen, die am 8. November Verspätungen einiger TGV-Züge auf der Strecke Paris-Lille zur Folge hatten. Die Vorrichtungen, um die es in diesem Zusammenhang geht, können, soweit wir den Erklärungen der Polizei und der SNCF selbst Glauben schenken können, in keiner Weise Menschen verletzen: sie können im schlimmsten Fall die Kommunikation zwischen Zügen erschweren und somit Verspätungen verursachen. In Italien sind Züge oft verspätet, aber bis jetzt hat niemand auch nur davon geträumt, die staatliche Bahn des Terrorismus anzuklagen.

Es handelt sich um geringfügige Delikte, auch wenn es niemandem in den Sinn kommen wird, sie gutzuheißen. Am 13. November formulierte ein Polizeibericht vorsichtig, dass es vielleicht „unter den in Gewahrsam Befindlichen GesetzesübertreterInnen gibt, dass es aber nicht möglich ist, einem von ihnen eine kriminelle Handlung zuzuschreiben“.
Die einzig mögliche Folgerung aus dieser undurchsichtigen Angelegenheit: AktivistInnen gegen die (in jedem Fall fragwürdige) Art und Weise, wie mit sozialen und ökonomischen Problemen heute umgegangen wird, werden heute ipso facto als potenzielle TerroristInnen angesehen, sogar wenn keine einzige Handlung diese Anklage rechtfertigen kann. Wir müssen den Mut aufbringen, mit Klarheit zu sagen, dass heute zahlreiche europäische Länder (vor allem Frankreich und Italien) Gesetze und polizeiliche Maßnahmen eingeführt haben, die wir früher als barbarisch und antidemokratisch beurteilt hätten, und dass diese nicht weniger extrem sind als jene, die in Italien im Faschismus in Kraft waren. Eine dieser Maßregeln legitimiert die 96-Stunden-Haft einer Gruppe junger – vielleicht leichtsinniger – Menschen, denen „man keine kriminelle Handlung zuschreiben kann“. Eine andere, ebenso schwer wiegende, ist die Verabschiedung von Gesetzen, welche Verbindungs- und Vereinigungsdelikte einführen, deren Formulierung bewusst vage gehalten bleibt und die es erlauben, terroristische „Absichten“ oder „Bestimmungszwecke“ politischen Handlungen zuzuordnen, die bis jetzt noch nie als terrorproduzierend angesehen wurden.

Erstveröffentlicht in: Libération, November 19, 2008
Quelle: http://eipcp.net/n_t/1227536496

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