Nach mehreren Sabotageakten an Eisenbahnlinien nahm die französische Polizei einige angebliche Mitglieder der so genannten ultragauche fest.
So nette junge Leute können doch nichts Böses tun. »Ich habe sie selbst im Ort empfangen, und der Erste unter ihnen war Julien C. Er war äußerst nett und sehr intelligent. Sie haben den Gemüseladen wieder eröffnet und den mobilen Verkauf in den Dörfern wiederbelebt. Sie wissen gar nicht, welche Freude ich empfinde, wenn ich Licht in den Fenstern eines Hofes sehe, der 40 Jahre lang verlassen war.« Mit diesen Worten zitierte vergangene Woche die Pariser Abendzeitung Le Monde Jean Plazanet, den früheren kommunistischen Bürgermeister von Tarnac, einer Gemeinde mit 330 Einwohnern auf dem Plateau de Millevaches im französischen Zentralmassiv.
Diese Gegend ist als eine der Hochburgen der französischen résistance bekannt. Partisanen kämpften hier gegen die Nazibesatzer, und Leute, die sich dem S.T.O. – dem Zwangsarbeitsdienst mit Verschickung ins Deutsche Reich – entzogen hatten, flüchteten hierher. Auch spanische Gegner von Franco, die nach dem Ende des Bürgerkriegs 1939 vor der Diktatur flohen, ließen sich auf dem unzugänglichen Hochplateau mit dem rauen Klima nieder.
Jean Plazanet und weitere 100 Personen, unter ihnen auch der amtierende kommunistische Bürgermeister der Nachbargemeinde La Villedieu, Thierry Letellier, haben sich seit zwei Wochen zum »Solidaritätskomitee von Tarnac« zusammengeschlossen. Ihre Solidarität gilt jungen Leuten, die nicht aus dieser Gegend stammen, sich aber seit 2002 nach und nach hier niedergelassen haben. Ein gutes Dutzend junger Männer und Frauen aus Paris und anderen Großstädten haben vor acht Jahren den Bauernhof Le Goutailloux, der seit Jahrzehnten leer gestanden hatte, wieder hergerichtet und leben seitdem hier.
Am 11. November bekam die Gemeinde Tarnac Besuch von der Polizei, die frühmorgens die Bewohner des Bauernhofs aus ihren Betten holte. Im Laufe des Tages wurde Tarnac buchstäblich von der Polizei umstellt. Weitere Durchsuchungen fanden gleichzeitig in Paris, Rouen und in Ostfrankreich statt. Im Anschluss wurden fünf Personen in Untersuchungshaft genommen. Fünf weitere kamen aus dem polizeilichen Gewahrsam frei, gegen vier von ihnen wurde ein Strafverfahren wegen »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« eingeleitet.
Die Festnahmen erfolgten nur drei Tage, nach mehreren Sabotageaktionen an Eisenbahnlinien. Am vorletzten Samstag waren Oberleitungen im weiteren Umland von Paris sowie in der Region Burgund durch Unbekannte mittels Anbringens von Hakenkrallen beschädigt worden. Die Folgen waren größere Verspätungen bei mehreren Hochgeschwindigkeitszügen (TGV) und am Pariser Nordbahnhof, zeitweise brach der Nahverkehr in die Vororte völlig zusammen.
Die Ermittler wollen nun die Festgenommenen als Verantwortliche für die Anschläge ausgemacht haben. Ihre personenbezogenen Daten waren zuvor im Zusammenhang mit Demonstrationen aufgenommen worden, so dass sie ins Visier der Fahnder geraten waren. Die Anschläge mit Hakenkrallen auf das Bahnnetz sollen, so behaupten die Ermittler, vor dem Hintergrund einer Schrift namens »L’Insurrection qui vient« (Der Aufstand, der kommt) zu verstehen sein. Dieses kleine Buch erschien im März 2007, von einem anonymen »unsichtbaren Kollektiv« verfasst, im linken Verlag La Fabrique. Sein Hauptverfasser, behaupten nun die Ermittler, sei Julien C., der »Anführer« der Gruppe von Tarnac.
Unabhängig von ihrer Urheberschaft wirft die politische Konzeption, die in dem Büchlein zum Ausdruck kommt, einige Fragen auf. Darin wird die Sabotage als legitime Form der politischen Aktion präsentiert. Die Schrift gilt als eine Art intellektuelles Manifest und gleichzeitig Sabotagehandbuch der so genannten ultragauche (Ultralinken). Diese unterscheide sich, ihrer Selbstdarstellung nach, von der extrême gauche (radikalen Linken) dadurch, dass sie jegliche Bündnispolitik ebenso wie jegliche bestehende Organisationsform ablehnt und sich nur über ihre Aktionen definiert. Der Begriff ultragauche entstand in den siebziger Jahren. Damals bezeichnete er einerseits Anhänger des bewaffneten Kampfs, andererseits eine Strömung, die u.a. unter Berufung auf auf den kommunistischen Theoretiker Amadeo Bordiga Stalinismus, bürgerliche Demokratie und Faschismus gleichsetzte – einzelne Protagonisten landeten später beim Auschwitz-Leugnertum. Heute bezeichnet der Begriff eine andere Strömung.
Die Verfasser des kleinen Buchs gehen davon aus, dass das bestehende Machtsystem heute kein Oben und kein Unten oder kein Zentrum mehr kenne, sondern im Zeitalter der »Vernetzung« vielmehr allgegenwärtig sei. Sie sprechen von den »Saugnäpfen« (pseudopodes) des Machtsystems, die sie in Gestalt von Sozialinitiativen, auch linksradikalen Parteien, Gewerkschaften und Bewegungskollektiven am Werk sehen.
Da die Macht netzwerkförmig überall agiere, müssten diese Netzwerke durchtrennt werden. Dies könne durch Sabotage von Computernetzwerken geschehen, durch das Lahmlegen eines TGV oder eines elektrischen Netzes. Alle diese Netze, so wird argumentiert, hielten das falsche Ganze am Laufen. Problematisch an diesem Avantgardismus ist, dass militante Aktionen an keine unmittelbar zu verwirklichende politische oder soziale Zielsetzung gekoppelt sind. Die Aktion legitimiert sich aus sich selbst heraus, als »Bruch« mit dem Bestehenden, und braucht von niemandem sonst verstanden zu werden. Stoppt man einen Waffentransport oder auch Atommüllzug – im Zusammenhang mit breiteren Protesten gegen die vermeintliche »Entsorgung« –, kann man dadurch einen konkreten Kampf befördern. Stoppt man hingegen ohne näheren Anlass einen TGV oder lässt den Nahverkehr zusammenbrechen, dürfte dies auch bei den Ausgebeuteten bestenfalls Unverständnis hervorrufen.
Die »Ultralinke« soll, dem Innenministerium zufolge, in Frankreich »rund 300 Personen« umfassen. Allerdings ist bereits jetzt klar, dass die jüngsten Ereignisse dazu dienen, weitere Teile von sozialen Bewegungen in die Nähe von Kriminalität zu rücken. So hat das Innenministerium bereits angekündigt, »Verbindungen zu Linksradikalen in Deutschland« untersuchen zu wollen, die ihrerseits versuchen, Atommülltransporte zu stoppen«. Denn dabei, so die Argumentation der Fahnder, handele es sich um einen ähnlichen Aktionsmodus.
Derzeit hat der Staat aber noch Beweisprobleme. Libération schrieb am Montag, Innenministerin Michèle Alliot-Marie sei seit ihrem Amtsantritt 2007 von einer angeblichen ultralinken Gefahr »besessen«, selbst als es noch keine Sabotageakte gab. Die Beweislage gegen die neun Beschuldigten ist derzeit dünn. Auch die Ermittler beschweren sich: »Üblicherweise reden Kriminelle, wenn wir sie mit Beweiselementen konfrontieren. Diese hier aber schweigen eisern und wollen nur über ihren Anwalt reden.«
copy/paste: http://jungle-world.com/artikel/2008/48/31364.html