Im ersten der insgesamt vier Interviews (Video) geben Benjamin und Matthieu einen Einblick in die Verhöre und Interpretationen der SDAT-Beamten in der Zeit während des Polizeigewahrsams. Sie erklären, dass die Akte die dem Richter vorliegen wird, zwei elementar unterschiedliche Versionen der Wahrheit verbirgt, aber damit auch die Geschichte erzählt wie die SDAT und das Innenministerium versuchen das Bild einer "klassischen Terrozelle" mit Strukturen wie z.B. der ETA zu kreieren.
Eine Struktur, die auf einem "geistigen Führer" oder Chef, einer "rechten Hand" und "ausführenden Personen" basiert. Die Vorwürfe rekurrieren auf ein Bild, das aus vielen kleinen und isolierten Überwachungsmomenten zum klassischen Format einer "Terrorzelle" zusammengesetzt wird. Diese "Überwachungsmomente" und andere "Beweise" werden aus einem anderen Kontext genommen instrumentalisiert, oftmals ohne Sinn und Logik.
Benjamin analysiert die Synthese des Protokolls seiner Vernehmung und weist auf die Art und Weise hin, wie die SDAT sein Verhalten und Antworten im Verhör interpretiert und auswertet. Die Verweigerung von Aussagen und ein nicht kooperatives Verhalten werden als Beweis für eine extrem politische Gesinnung und Entschlossenheit gewertet [1]. Das Ablehnen einer Kooperation basiert auf der Tatsache, dass Benjamin nicht anerkannt hat dass die Akte unter dem Terrorgesetz behandelt wird. Die SDAT wertet dies als Beweis für ein "starkes und entschlossenes politisches Engagement".
Die Art und Weise der Vernehmungen und daraus geschlossenen Interpretationen ziehen sich durch das gesamte Protokoll und den gesamten Fall. "Die SDAT schreibt ihr eigenes Buch über Tarnac, indem sie die Geschichte auf nicht zusammenhängenden Interpretationen und nicht auf Beweise basiert".
Matthieu und seine Freundin wurden auch verhaftet und verhört. Es wurden bei der Hausdurchsuchung keinerlei Beweise gefunden außer Prospekte und Flugblätter, die keiner bestimmten Person zuzuordnen waren. Die SDAT hat diese Texte als intellektuelle Basis für eventuelle "terroristische Akte" in der Zukunft interpretiert. Matthieu sagt, dass das Interesse seitens der SDAT an ihm und seiner Freundin hauptsächlich an ihrer politischen Einstellung bestand und jene Gesinnung zu praktisch ausgeführten Gewalttaten führen könnte.
Gegen Benjamin wird ermittelt, weil er sich an "gewalttätigen Demonstrationen" wie z.B. beim G8 in Evian 2003 beteiligt haben soll. Er erklärt, niemals in seinem Leben in Evian gewesen zu sein, es wird ihm aber dennoch vorgehalten – ohne jeglichen Beweis. Weiter steht in dem Protokoll, da er gewalttätige Demonstrationen besucht habe, hätte er sich folglich auch an gewalttätigen Aktionen beteiligt. Es gibt dazu weder Bilder noch Videos, die Anschuldigungen basieren auf Aussagen der SDAT, also Interpretationen.
Die "Anti-Terrorismus-Einheit" SDAT basiert ihre Ermittlungen auf eine klassische Struktur von "Terrorismus" wie zum Beispiel Aufbau und Aktionsfeld von ETA oder korsischen Gruppen. Das heißt im Falle der Tarnac9, die Realität muss in die passenden definierten Strukturen einer "Terrozelle" gepresst werden. Dies passiert durch Interpretationen und Deutungen einzelner Punkte der Vernehmung und Überwachung, um ein Szenario zu schaffen, damit das "Terrorgesetz" angewendet werden kann.
Behauptet wird eine "Terrorzelle" mit einem intellektuellen/ charismatischen "Führer", seiner "rechten Hand", einem "Bastler" etc. Die Auswertung der einizgen "Beweisstücke" wie Prospekte und Flugblätter wird diesem Schema angepasst. Auch wenn das lächerliche Gebilde nur konstruiert ist, wird dieser Kurs weiter vefolgt.
Benjamin spricht darüber, wie der gesamte Fall in Szene gesetzt wird. Als Beispiel: Es gab diverse Momente von Überwachung, aber lediglich Ausschnitte, keine konstante Observation. Diese Überwachungsmomente werden aus dem Kontext genommen und als "Beweise" instrumentalisiert in dem Sinne, die Gruppe stünde davor "idealistische Ideen" in die Praxis umzusetzen. "Wie die isolierten Momente der Überwachung miteinander verbunden werden ist pure Behauptung".
Die Nacht der Sabotagen am 7./ 8. November 2008
Matthieu erläutert, laut Überwachung der SDAT habe er gegen 21 Uhr das Haus verlassen und kam gegen 3 Uhr in der Nacht zurück. Er erklärt, dass er und seine Freundin auf einem Geburtstag mit etwa 30 Freunden waren, danach haben sie einen Club bei Rouen besucht, wo sie den Abend mit anderen ca. 150 Personen verbrachten. Er hat das Haus mit einem Reisekoffer und einem Werkzeugkoffer verlassen. Dies war ein leerer Koffer, den seine Mutter seiner Freundin für eine Reise geliehen hatte und den er ihr am Morgen zurückbringen wollte. Der Werkzeugkoffer war im Gepäck weil er das Auto seiner Mutter reparieren wollte, die den Schlüssel im Zündschloss abgebrochen hatte. Das lustige, sagt er, sei dass dies ausschlaggebend für die SDAT war: "Bingo! Wir haben die Schuldigen".
Benjamin: Das "Lineup" der verschiedenen Sabotageakte und der Überwachungsmomente widerspricht der Tatsache dass er, Gabrielle und Manon nahe an einer TGV-Linie gesehen worden sein sollen.
"Ich muss da genau nachschauen, aber ich denke es waren so um die 500 km vom Ort wo die Sabotage ausgeführt wurde".
Die SDAT folgert, dass sein Auftauchen an einer TGV-Linie mit den Anschlägen korrespondieren würde. Benjamin sieht das wegen der Entfernung zu den Orten der Sabotage als pure Konstruktion. Er glaubt, dass dieses "Lineup" der SDAT schon vor den Verhören feststand, denn einzelne Überwachungsmomente und Sabotageaktionen werden aneinandergereiht, damit das gewollte Bild entsteht.
Er kritisiert, dass diese Elemente, die keine Beweiskraft haben, überhaupt angeführt werden können. Die SDAT gab zu verstehen, dass sie vermuteten dass er nicht an den Sabotageakten beteiligt war, er aber mehr wisse. Er erwähnt auch, dass er erst am Ende der Vernehmungen zu den Sabotagefällen befragt wurde.
Matthieu bestätigt noch einmal dass das Protokoll der SDAT schlicht Behauptungen aufstellt, die auf ihren Interpretationen basieren. Die Person hinter der Kamera deutet darauf an, dass damit also Aussage gegen Aussage stehe. Matthieu stimmt dem zu, sagt aber dass es für den Richter wichtig sein wird ihre eigene Aussagen und die der Polizei vor sich zu haben. Der Richter kann nicht ignorieren, dass es große Unterschiede zwischen ihnen und keine Beweise gibt.
Zur Demonstration in Vichy 3. November 2008
Benjamin zitiert aus dem SDAT-Protokoll: "Er wurde bei der Demonstration an der Seite von J.C. beobachtet wie er, wie üblich, seine Funktion als rechte Hand ausführte". "Das sind haltlose Behauptungen!", erklärt er. Nicht einmal während der Zeit in Untersuchungshaft oder bei den Vernehmungen gab es irgendeinen Hinweis darauf, dass er eine Art "rechte Hand" eines "Anführers" sei. Der Terminus "wie üblich" ist in diesem Zusammenhang merkwürdig, da er diese Struktur als eine Tatsache hervorheben will, ohne auch nur im geringsten beweisen zu können dass es sie überhaupt gibt.
Im Auto sagt Benjamin, es komme ihm wie ein schlechter Scherz der rechten Politik vor, einen Gipfel zu Fragen der Immigration in Vichy zu veranstalten, noch dazu im Casino, welches Symbol des faschistischen Vichy-Regimes ist [2]. Dieser Gipfel wurde von den Ministern für nationale Identität vorbereitet.
Was ist passiert in Vichy?
Die Demonstration führte um die "rote Zone" des Gipfels herum. Eine Gruppe hatte sich von der Demonstration getrennt und ging auf die "rote Zone" zu. Dort gab es Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die SDAT wollte Beweise finden, dass diese Aktion organisiert und geplant war und von Julien dirigiert wurde. Diese Überwachung, als Benjamin zu Beginn des Tages an der Seite von Julien gesehen wurde, dient als Basis der Behauptung die "rechte Hand" Juliens zu sein – was folglich wohl auch als Beweis für die Existenz eines "Anführers" dient, denn wo eine "rechte Hand" ist muss auch ein "Anführer" sein.
Die Person, die angeblich beobachtet wurde wie sie ein Seil an die Schutzschilde der Polizei anbrachte, um diese zu Fall zu bringen, war nicht Julien. Viele die ihn persönlich kennen, können das bestätigen, erläutert Benjamin. Auf die Frage ob es Fotos gäbe, erwidert Benjamin: "Nein, es gibt nicht ein Foto".
Dann spricht er über eine TV-Reportage von France2, die unscharfe Aufnahmen eines Mannes während den Riots mit der Polizei bei der Demonstration in Vichy zeigt. Mit einem Pfeil wird auf ihn gedeutet und gesagt "der Chef der Zelle war auch vor Ort!". Benjamin sagt auch hier, dass jede(r) der/ die Julien kennt bestätigen würde, dass er das nicht sein kann. Nicht mal die SDAT kann auf diesen Punkt bestehen.
[1] Anm.: in den ersten Medienberichten waren Zitate einiger SDAT-Beamter aufgeführt worden, die das Verhalten der Vernommenen in Frage stellten: "Die Beschuldigten legen einen sehr aggressiven Tonfall an den Tag, verweigern eine Kooperation und lehnen demokratische Werte ab". Ohne darauf hinzuweisen, dass es für dieses Verhalten natürlich Grund und Legitimation gab.
[2] Anm.: http://en.wikipedia.org/wiki/Vichy_France
Das Video ist online unter http://www.dailymotion.com/related/x7q7ev_tarnac-lemballement-mdiatique-enqut_news/video/x7q6ot_tarnac-les-accusations-enqute-vido_news
per mail zugesandt; Dankeschön!!