Bernard Schmid berichtet aus Frankreich
Strafrechtliche Ermittlungen gegen die so genannte „Ultragauche“: Die französische Staatsmacht schnitzt sich einen neuen „inneren Feind“ zurecht. Das Terrorismuskonstrukt bricht derzeit in sich zusammen, und ruft bis tief in die linksbürgerliche Presse hinein Widerspruch und Empörung hervor. Zugleich zeugen die Schriften der so genannten ‚Ultragauche’, die den Anklagen wegen jüngst begangener Sabotageakte zugrunde gelegt werden, von einer – pardon – ausgesprochen bescheuerten politischen Konzeption
So nette junge Leute können doch nichts Böses tun. „Ich habe sie selbst im Ort empfangen, und der Erste unter ihnen war Julien Coupat. (Anmerkung: oder Julien C., aber die französische Staatsmacht und das Publikum der Massenmedien kennen ihn ohnehin längst unter vollem Namen…) Er war äußerst nett und sehr intelligent. Sie haben den Gemüseladen wieder eröffnet und den mobilen Verkauf auf den Dörfern wiederbelebt. Sie wissen gar nicht, welche Freude ich empfinde, wenn ich Licht in den Fenstern eines Hofes sehe, der vierzig Jahre lang aufgegeben gewesen war.“
Der dies – vermutlich mit leuchtenden Augen erzählt – ist der frühere kommunistische Bürgermeister von Tarnac, Jean Plazanet. Seine Worte wurden vergangene Woche in der liberalen Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ zitiert. Tarnac ist eine Gemeinde mit, laut amtlicher Statistik, 330 Einwohnern auf dem Plateau de Millevaches, im französischen Zentralmassiv.
Die Gegend, die zur Region Limousin gehört, ist dafür bekannt, dass sie eine der Hochburgen der französischen Résistance war: Widerstandskämpfer gegen die Nazibesatzer und Arbeitsdienstflüchtlinge, die sich dem STO – dem Zwangsarbeitsdienst mit Verschickung ins Deutsche Reich – entzogen hatten, flüchteten hierher. Sie verfügten sogar über einen eigenen „Präfekten der Résistance“, Georges Guingouin, der in einigen Landstrichen statt der Staatsmacht von Vichy mit ihren Präfekturen und statt der Nazis den Ton angab. Auch spanische Franco-Gegner, die nach dem Ende des Bürgerkriegs 1939 aus Spanien flohen, lieben sich auf dem relativ unzugänglichen Hochplateau mit dem rauen Klima nieder. Aus dieser Geschichte, wie aus der vorangegangenen „roten Landarbeiterbewegung“, resultiert die bis heute recht starke Verankerung der Parteikommunisten in dem Gebiet.
Jean Plazanet und weitere 100 Personen, unter ihnen auch der amtierende kommunistische Bürgermeister der Nachbargemeinde La Villedieu – Thierry Letellier – haben sich seit dem 13. November zum „Solidaritätskomitee von Tarnac“ zusammengeschlossen. Eine grobe Zahl von Leuten, gemessen an der heutigen Einwohnerzahl der Orte.
Ihre Solidarität gilt jungen Leuten, die nicht aus der Gegend stammen, sich aber seit 2002 sukzessive dort niedergelassen hatten. Aus Paris und anderen Grobstädten kommend, hatten ein gutes Dutzend junger Männer und Frauen den Bauernhof Le Goutailloux, der seit Jahrzehnten brach gelegen hatte, wieder hergerichtet und darin – oder in Wohnwagen auf dem umgebenden Gelände – gelebt. Als ihr „Anführer“ und Vordenker gilt, dieser Auffassung ist jedenfalls die Staatsmacht, Julien Coupat. Der 34jährige war ansonsten Inhaber eines Masterdiploms über die Schriften von Guy Debord, des Intellektuellen der Situationistischen Internationalen, und Doktorand an der EHESS, einer Elitehochschule für Sozialwissenschaften in Paris.
Die jungen Leute, die auch den örtlichen Gemüseladen wieder in Schwung gebracht hatten (mit einer kleinen Subvention durch die Regionalregierung in Limoges, die allerdings infolge der jüngsten „Terrorermittlungen“ und –vorwürfe soeben wieder entzogen worden ist), hatten in der dazugehörigen kleinen Gastwirtschaft ein Bild von Georges Guingouin aufgehängt. Auch sonst sahen sie sich möglicherweise selbst in der Tradition der damaligen Widerstandskämpfer stehen. Allerdings unter ziemlich anderen historischen Bedingungen.
Verhaftungswelle nach Sabotageakten auf Eisenbahnlinien
Die Staatsmacht ihrerseits sieht mehrere unter den jungen Leuten, allen voran Julien Coupat als ihren angeblichen „charismatischen Anführer“ – wie bürgerliche Medien, etwa das Regenbogenmagazin ‚Paris Match’, ihn nunmehr bezeichnen -, unter dem Verdacht stehen, gefährliche „Terroristen“ zu sein. Der Vorwurf gegen sie, eine „terroristische Vereinigung“ darzustellen, bricht allerdings im Augenblick – in den Augen weiter Teile der Öffentlichkeit – längst in sich zusammen. Die Anklage ruft derzeit bis tief in linksbürgerliche Kreise hinein Empörung hervor. (Vgl. auch das eigens dazu verfasste satirische Liedchen über die „Terror“-Anklage gegen die Neun von Tarnac:
http://www.dailymotion.com/video/x7kqw4_n9-ultime-hyper-totale-gauche-la-pa_news)
Am Dienstag, 2. Dezember musste die Untersuchungskammer am Pariser Appellationsgerichtshof (= Berufungsinstanz) drei der fünf noch in Untersuchungshaft Schmorenden auf freien Fub setzen. Die materiellen Vorwürfe respektive Beweismittel erweisen sich zunehmend als äuberst mager.Dass Staatsorgane politische Widersacher unter bestimmten Voraussetzungen als so genannte „Terroristen“ betrachten, ist nicht gerade neu, es war vielmehr auch zu Zeiten der Résistance schon so. Diese Feststellung enthebt freilich den kritischen Betrachter, nicht der Aufgabe, genau hinzusehen, sofern es um eine inhaltliche Bewertung der Vorwürfe sowie der Vorstellungen der jeweiligen Opponenten geht.
Am 11. November, einem gesetzlichen Feiertag in Frankreich – als Jahrestag des Kriegsendes von 1918 -, holten frühmorgens starke Polizeikräfte insgesamt zwanzig junge Leute aus ihren Betten. Die Hälfte von ihnen lebte in Tarnac, wobei die Kommune im Laufe des Tages buchstäblich von Polizei umstellt wurde. 150 Beamte, darunter Angehörige von Elitekommandos der Polizei/Gendarmerie (die entfernt mit der deutschen GSG9 verglichen werden können), waren im Einsatz. Die übrigen Durchsuchungen fanden in Paris, Rouen und im ostfranzösischen Département Meuse (Maas) statt. Im Anschluss wurden zehn Personen in polizeilichen Gewahrsam genommen, der bei „terroristischen“ Delikten – und um diesen Vorwurf ging es – bis zu 96 Stunden dauern kann. An deren Ende wurden fünf von ihnen in Untersuchungshaft genommen. Die übrigen kamen frei, wurden jedoch unter Meldeauflagen gestellt, und ein Strafverfahren wegen Sachbeschädigung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung läuft gegen vier unter ihnen. Am Dienstag, 2. Dezember kam nun auch die Mehrheit der noch in U-Haft Einsitzenden frei, nachdem keine DNA-Spuren in der Nähe der „Anschlagsorte“ gefunden worden waren, die einen „Tatverdacht“ aufgrund der jüngsten Akte von Bahnsabotage gegen sie erhärten könnten. Allein Julien C., als der angebliche „Anführer“, und seine Lebensgefährtin Yldune bleiben derzeit noch in U-Haft. Dem Erstgenannten drohen allerdings noch immer, als angeblichem „Kopf einer terroristischen Vereinigung“ und sollte dieser Anklagepunkt aufrecht erhalten bleiben, bis zu 20 Jahre Haft.
Die Festnahmen erfolgten nur drei Tage, nachdem mehrere Sabotageakte an Eisenbahnlinien der französischen Bahngesellschaft SNCF vermeldet worden waren. Am Samstag, den 8. November 2008 waren Oberleitungen im weiteren Umland von Paris, nördlich sowie östlich der Hauptstadt, sowie in der Region Burgund durch Unbekannte mittels Anbringens von Hakenkrallen beschädigt und heruntergerissen worden. Am 26. Oktober hatte bereits ein ähnlicher Anschlag, mit Sachbeschädigung als Folge, in der Nähe der ostfranzösischen Kommune Vigny verzeichnet worden. Die Folge waren in allen Fällen gröbere Verspätungen bei mehreren Hochgeschwindigkeitszügen (TGV), und am 8. November brach am Pariser Nordbahnhof zeitweise der Nahverkehr in die Vororte völlig zusammen.
Terrorismusvorwürfe: Konstrukt und Produkt umfassender Datenerhebungen und -austauschs
Die Staatsmacht will nun die Festgenommenen als Verantwortliche für die Anschläge ausgemacht haben. Ihre personenbezogenen Daten waren zuvor im Zusammenhang mit Demonstrationen sozialer Bewegungen aufgenommen worden, so dass sie ins Visier der Fahnder geraten waren.
Mehrere der Betroffenen sollen zuletzt am 3. November 2008 bei einer Demonstration am Rande des „Integrationsgipfels“ der EU – einer Tagung der Innen- und Justizminister der Union zur Einwanderungs- und Abschiebepolitik, welche die französische Ratspräsidentschaft geschmackvolle Weise in Vichy stattfinden lieb – kontrolliert worden sein. Die Demonstration war von militanten Zusammenstöben mit den so genannten Sicherheitskräften begleitet gewesen. Zuvor hatte die Polizei mehrere der jetzt Festgenommenen bei Demonstrationen gegen den „Ersteinstellungsvertrag“ CPE im Frühjahr 2006 kontrolliert.
Auch sollen die personenbezogenen Daten einiger von ihnen durch die US-amerikanischen Behörden an Frankreich übermittelt worden sein, nachdem sie an Protesten vor einem Rekrutierungszentrum der US-Army im Raum New York teilgenommen hatten. So lauteten jedenfalls die ersten Informationen, die durch die Presse durchsickerten. Inzwischen hat die linksliberale Tageszeitung ‚Libération’ (vom 24. November) präzisiert, dass Julien Coupat lediglich Informationsmaterial über solche Rekrutierungszentren in seinem Auto dabei gehabt habe, als er zu Anfang dieses Jahres an der kanadisch/US-amerikanischen Grenze in eine Kontrolle des FBI geraten sei. Daraufhin hätten die US-Behörden ihn in Zusammenhang mit einem Anschlag gebracht, der im März 2008 (mehrere Wochen nach der Rückkehr Julien Coupats nach Frankreich, also weit entfernt von seinem Aufenthaltsort zum fraglichen Zeitpunkt) verübt wurde, und seine Daten an ihre französischen Amtskollegen übermittelt. Die aktuellen Ermittlungen werfen also sichtbar die Frage nach dem Austausch personenbezogener Daten, und nach der Überwachung und Ausspähung tatsächlicher oder vermeintlicher politischer Opponenten auf. Es ist jedenfalls auch nach herrschendem Recht keine Straftat, Informationen über Rekrutierungszentren der Armee zu besitzen. Und auch an Protesten dagegen teilzunehmen, ist auch unter herrschenden Verhältnissen noch erlaubt. Kontakte zu Protestierenden zum Gegenstand für einen transatlantischen Datenaustausch zu erheben, ist „nicht ohne“ und belegt eine gewisse Qualität in der Überwachung und bei der Zusammenarbeit der „Sicherheits“organe.
Die Betroffenen, die zwischen 23 und 34 Jahre alt sind, sollen der „anarcho-autonomen“ Bewegung angehören, so Innenministerin Michèle Alliot-Marie. Die Autonomen, kurz auch „Totos“ genannt, bilden in Frankreich eine wesentlich schmalere politische Szene als in Deutschland, bestehend aus maximal einigen hundert Personen im ganzen Staatsgebiet. Denn die gleichnamige Strömung bildete v.a. in den 1980er Jahren in Westdeutschland den stärksten Teil der radikalen Linken, während dieser Platz in Frankreich eher von Trotzkisten und „libertären Kommunisten“ besetzt wurde und wird. Zudem gelten die „Totos“ den meisten anderen Strömungen der radikalen Linken als von Polizeispitzeln durchsetzt. Dieses politische Milieu ist also (innerhalb der Linken) tendenziell eher marginalisiert und in den sozialen Bewegungen eher randständig – im Unterschied zur Situation in Westdeutschland und Westberlin, Stichwort Häuserkampf, seit den 1980er Jahren. Auch kam es aus ihren Reihen in der Vergangenheit ab und zu zu „kaum noch vermittelbaren“ Durchknalleraktionen – wie der Schieberei auf einem polizeilichen Abschleppplatz für Autos und an der Pariser Stadtausfahrt Porte de Vincennes im Oktober 1994, in welche die junge Aktivistin Florence Rey verwickelt war und bei der fünf Personen (vier Polizisten und ein Taxifahrer) starben. Dabei handelte es sich freilich eher um einen „Durchgeknallten“akt denn um irgendeine Form von politisch zu nennender Aktion. Danach war das politische Milieu, dem die junge Frau entstammte, jahrelang hochgradig isoliert.
Die Innenministerin wittert eine neue Gefahr
Schon im April 2008 hatte die seit dem Jahr davor amtierende Innenministerin Michèle Alliot-Marie öffentlich von einer „Gefahr“, die in Frankreich neuerdingsvon „Anarcho-Autonomen“ und einer von ihnen neu gebildeten „Ultgralinken“ ausgehe, gesprochen. Dies kam damals für breite Teile der Öffentlichkeit sehr unvermittelt, zumal es damals noch keinerlei Anschläge wie die jetzt auf die Bahnlinien verübten gegeben hatte. Bis weit in linksliberale Kreise hinein wurde der Minister daraufhin motivlose „Paranoia“ vorgeworfen.
Auch jetzt ist ein Grobteil der linken und auch linksliberalen Öffentlichkeit ausgesprochen skeptisch eingestellt, was die Tatvorwürfe gegen die unlängst festgenommenen Personen betrifft. Die linksliberale Tageszeitung ‚Libération’ schrieb etwa am 24. November, die Ministerin sei seit ihrem Amtsantritt von einer angeblichen Gefahr von Links „besessen“ (‚une obsession’), und die jüngsten Sabotageakte hätten sich erst nachträglich in dieses Bedrohungsbild eingefügt. Von dort aus ist die Schlussfolgerung, es handele sich mutmaßlich um ein Konstrukt, de facto nicht mehr weit. Auf dem Blog von ‚Libération’ ist in einem Beitrag explizit von einer „ideologischen Konstruktion des Terrorismus“ die Rede.
Inzwischen ist auch Genaueres über die „Obsession“ der Ministerin bezüglich der „Ultralinken“ (so formulieren ‚Le Monde’ und ‚Libération’ inzwischen gleichlautend) bekannt geworden. Schon seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2007, schreiben die beiden linksliberalen Tages- respektive Abendzeitungen am 3. Dezember 08, habe die Innenministerin Alliot-Marie eine fixe Idee: Aufgrund der organisatorischen Schwäche der (parteiförmig strukturierten) Linke werde sich eine neue „Ultralinke“, jenseits der etablierten Linkskräfte und auch der herkömmlichen – auberparlamentarischen – radikalen Linken, herausbilden. Diese werden danach streben, einen neuen „bewaffneten Kampf“ aufzunehmen, im Sinne eines Wiederanknüpfens an die Action Directe – die 1986 definitiv zerschlagen wurde – und die westdeutsche RAF früherer Tage.
Eine Idee, die, gelinde ausgedrückt, keinerlei Anhaltspunkt in der Wirklichkeit findet. Auch wurde bei den jetzt vorgenommenen Festnahmen und Hausdurchsuchungen – bei jenen Personen, die laut Eigenangaben des Innenministeriums seit sechs Monaten unter polizeilicher Observation standen, und gegen die also aus seiner Sicht ein ziemlich konkreter Verdacht vorgelegen haben muss – nicht eine einzige Waffe gefunden. Die Anklage bezüglich einer möglichen „Tatbeteiligung“ an den Akten der Bahnsabotage stützen sich auf den Besitz von Fahrplänen (sic), Kletterleitern, Bolzenschneidern, von Eisengitterteilen – die zur Formung von so genannten Hakenkrallen hätten dienen können – sowie auf den Fund von ganz bestimmter Literatur in der Bibliothek in der Anklage. Namentlich auf das im März 2007 publizierte Buch „Der Aufstand, der kommt“ vom anonymen Autorenkollektiv der „Unsichtbaren“ (AUSFÜHRLICHERES SIEHE UNTEN), eine Art Kreuzung aus politischem Manifest und Sabotagehandbuch, das jedoch frei verkäuflich ist: Die Schrift erschien als „ordentlicher“ Buchtitel im – linksradikalen – Verlag La Fabrique.
Daraus resultiert die Empörung bis weit hinein in die linksliberale Presse – ‚Libération’ lieb diesbezüglich auch weiter links stehende Autoren wie den liberatär-atheistischen Philosophen Michel Onfray zu Wort kommen. Zurückgewiesen und mit heftiger Kritik bedacht wird einerseits der „Terrorismus“vorwurf: Da die jüngsten Sabotageakte gegen Eisenbahnlinien, auch wenn man sie für politisch bescheuert hält (was bspy. Onfray auch tut), zu keinem Zeitpunkt Menschenleben gefährdeten, Personen weder zu verletzten noch zu töten drohten, sei der an sie gerichtete „Terrorismus“vorwurf „in Zeiten von Bombay“ ungeheuerlich. Denn während tatsächliche Terroristen in Bombay zu Massenmördern wurden (und lt. indischer Polizei einzelne jüdische Geiseln folterten) – in manchen französischen Massenmedien wurden sie im übrigen in diesem Falle nicht einmal als „Terroristen“, sondern als „Aktivisten“ tituliert -, suggeriere die Verwendung des „Terrorismus“begriffs, es handele sich in beiden Fällen um Gleichartiges. Oder jedenfalls um, von der Natur der Handlungen her, Vergleichbares. Dies ist jedoch offenkundig mitnichten der Fall. Deshalb kann, nach inzwischen bis tief in die bürgerliche Presse hinein verbreiteter Auffassung, selbst dann von „Terrorismus“ nicht die Rede sein, falls die Beschuldigten WIRKLICH die Sabotageakte gegen die Bahn begangen hätten. Denn falls die Worte überhaupt einen Sinn hätten, dann stecke im Begriff „Terror“ das lateinische Konzept für „Schrecken“. Ein solcher sei aber – in einem Ausmab, das mit dem realen Terror in Bombay und anderswo (und natürlich, fügen wir hinzu, vielfach auch dem STAATSterror, sei es kriegerischer oder anderer Art) verbunden ist – in diesem Falle nicht vorhanden.
Denn kommen Züge aufgrund dümmlicher Sabotageakte – auch falls man der Auffassung ist, sie hätten keinerlei politischen Sinn – zu spät, dann ist dies ein Ärgernis. Jedoch kein tödlicher Schrecken. Im Übrigen handelt es sich nicht um die einzigen Anschläge auf das Bahnnetz, das ja allein schon aufgrund seines Ausmabes (34.000 Streckenkilometer lassen sich eben grundsätzlich nicht lückenlos überwachen) „empfindlich“ oder „verletzbar“ ist. Alljährlich finden, laut Zahlen des ‚Canard enchaîne’ insgesamt 27.000 „böswillige Akte“ – Sachbeschädigung, Steinwürfe, Gegenstände auf den Geleisen und diverse bescheuerte Aktionen – gegen die französische Eisenbahn statt. Zugegeben, Hakenkrallen gegen die Oberleitungen haben eine andere Qualität. Allerdings nicht im Hinblick darauf, dass dabei Menschen zu Schaden hätten kommen können: In allen Fällen handelt es sich um puren Materialschaden, sowie Gründe für Zugverspätungen (die allerdings oft auch ohne solchen Anlass stattfinden). Man muss solche Handlungen also weder gut & richtig finden, noch muss man unabgebrachte Vergleiche zu WAHREM Terror – wie in Bombay – allein schon durch die Verwendung des „Terrorirmus“begriffs heranziehen.
Und selbst ob die zuvor Observierten und jetzt (jüngst) Festgenommen wirklich die Urheber/innen der Sabotageakte auf die Bahn sind, steht im übrigen noch gar nicht konkret fest. Tatsächlich geben die Ermittlungsbehörden selbst an, bislang noch über keine hieb- und stichfesten Beweise gegen die Verdächtigten zu verfügen. Die polizeilichen Ermittler zeigten sich zunächst sogar öffentlich frustriert: „Normalerweise fangen Kriminelle an zu sprechen, wenn wir sie mit Beweismitteln konfrontieren. Diese hier aber schweigen eisern und wollen nur in Gegenwart ihres Anwalts sprechen.“
Nunmehr behauptet die Polizei allerdings, über gewichtige Indizien gegen die Verdächtigen zu verfügen. Das reicht vom Besitz von Gegenständen wie Bolzenschneidern und Kletterleitern – was die Kritiker, die sich im Internet wie auch in Medien bis hin in die Leserbriefspalten von Libération zahlreich zu Wort melden, freilich als „nicht untypisch für Landbewohner“ bezeichnen – und Bahnfahrplänen (sic!!) über Tagebucheinträge am Vormittag der jüngsten Anschläge auf Bahnlinien, bis hin zu Beschattungsprotokollen.
Die jetzt Verdächtigten sollen bereits seit sechs Monaten polizeilich observiert worden sein. Julien C. und seine Freundin, so behauptet das Innenministerium, seien in derselben Nacht, in der eine Hakenkralle im östlichen Pariser Umland angebracht wurde, gegen 4 Uhr früh unweit der Bahnstrecke observiert worden. Allerdings wenden Kritiker/innen ein, im Falle, dass die Leute tatsächlich seit sechs Monaten mehr oder minder lückenlos observiert worden wären, sei es bemerkenswert, dass sie überhaupt Sabotageakte vorbereiten und durchführen konnten. (Was allerdings nicht notwendig ein Widerspruch sein muss, die Staatsmacht kann ja in manchen Fällen auch gemütlich abwarten und „machen lassen“, bis die Falle zuschnappt. Letztere Frage aufzuwerfen, enthält also für sich allein noch keine schlüssige und definitive Antwort. Genauso fraglich ist allerdings, FALLS die Story von den nächtlichen Beschattungen unmittelbar am „Tatort“ wirklich zutrifft, warum die Beschuldigten dann nicht unmittelbar vor Ort und ‚in flagranti’ einkassiert worden sind. Dies hätte materielle Zweifel wohl ausgeräumt. Zudem geben die Ermittler nun Pannen zu, wie die, dass sie in der Umgebung des „Tatorts“ nach DANN-Spuren suchten, aber keine fanden – es lässt sich freilich leicht vermeiden, welche zu hinterlassen, indem man beispielsweise Handschuhe benutzt. Alles in allem deutet diese Situation jedoch stark darauf hin, dass die Beweislage für die Ermittlungsbehörden dürftig, ja wirklich ausgesprochen mager ausfällt.)
Die kriminologischen Einzelheiten bezüglich der Bahnsabotage – nicht bezüglich des „Terrorismus“vorwurfs, der als ungeheuerliches ideologisches Konstrukt an und für sich scharf zurückzuweisen ist – brauchen die kritische Linke, die sich den Verfolgungsanspruch des Staates ja nicht zu eigen machen muss, vorläufig nicht zu interessieren. Einstweilen tun die Anwältinnen und Anwälte, unter ihnen eine prominente progressive Strafverteidigerin wie Irène Terrel, ihren Job und bereiten die Verteidigung in einem möglichen zukünftigen Prozess vor. Unterdessen warnen aber auch prominente Linksintellektuelle in einer unterstützenswerten Petition davor, dass die Staatsmacht mit konstruierten Vorwürfen zu einem Rundumschlag gegen politische und soziale Opponenten ausholen könnte. Unter den Unterzeichner/innen finden sich etwa Alain Badiou, Daniel Bensaïd, Enzo Traverso und Eric Hazan (vgl. http://www.lemonde.fr). Sie bezeichnen die Vorwürfe als „vage“ und die bisher durch die Staatsmacht vorgelegten Beweismittel als haltlos, das aktuelle Strafverfahren beruhe vor allem auf der „Anklage einer Gesinnung“. Vor diesem Hintergrund fordern die Unterzeichner/innen die sofortige Freilassung der Beschuldigten aus der Untersuchungshaft. – Über einen Antrag der AnwältInnen der Verteidigung auf Haftentlassung wird die Pariser („Anti-Terror-“)Justiz unterdessen am morgigen Dienstag, den 2. Dezember entscheiden.
Unterdessen stellt sich für die kritische Linke auch die Frage nach der politischen Analyse und Bewertung der Sabotageaktionen, völlig unabhängig davon, welche Personen sie verübt haben könnten. Die zuletzt genannte Frage (jene nach möglichen Verantwortlichkeiten für konkrete Akte) ist zuvörderst ein Job für Anwältinnen und Anwälte, Solidaritätsbündnisse und – auf der anderen Seite – für die bürgerliche Justiz. Sicherlich wird es hörbaren politischen Einspruch brauchen, sofern sich abzeichnet, dass die Staatsmacht mit offenkundig herbei konstruierten Vorwürfen versucht, soziale oder politische Opposition zu treffen und zu kriminalisieren. Unabhängig davon muss sich die kritische Linke aber auch zu einer Bewertung der Aktionen „an und für sich“ und ihrer konzeptuellen Hintergründe durchringen.
Die Anschläge mit Hakenkrallen auf das Bahnnetz sollen, so behaupten die Ermittler, vor dem Hintergrund einer Schrift namens L’Insurrection qui vient (Der Aufstand, der kommt) zu verstehen sein, Dieses kleine Buch erschien im März 2007, von einem anonymen Kollektiv namens Les Invisibles (die Unsichtbaren) verfasst, im linken Verlag La Fabrique. Sein Hauptverfasser – behaupten die Ermittler und auch manche Intellektuellen, die grundsätzliche Sympathien für ihn bekunden (vgl. http://www.mondialisme.org/) – sei Julien Coupat. Gleichgültig, ob dies nun zutrifft oder nicht, handelt es sich um ein (als solches und nur als solches interessantes) politisches Dokument: theoretisches Manifest und Sabotagehandbuch zugleich.
Überschätzte Manifest- und angebliche „Brandschrift“ Oder: Alain Bauer und die 40 Räuber, ähm: Bücher
Völlig unabhängig von der Frage, wer es nun verfasst haben mag, wirft die politische Konzeption, die darin zum Ausdruck kommt, hauptsächlich nur Fragenzeichen auf. Sie macht tatsächlich Aktionen in Form von Sabotageanschlägen auf das Bahnnetz „inhaltlich“ plausibel. Die Schrift gilt als intellektueller Ausdruck einer so genannten Ultralinken (ultragauche).
Dieser Begriff, der im konkreten Fall überwiegend durch die Staatsmacht als Fremddefinition auf das fragliche politische Milieu angewendet wird, existierte und existiert auch als politische Bezeichnung innerhalb der Linken. Diese ‚ultragauche’ unterscheidet sich nach allgemein verbreiteter Auffassung dadurch von der („herkömmlichen“) radikalen Linken (extrême gauche), dass sie jegliche Bündnispolitik ebenso wie jegliche bestehende Organisationsform ablehnt und sich ausschlieblich über ihre Aktionen definiert.
Bei dem Begriff „Ultralinke“ handelt es sich im Wesentlichen um eine Fremdzuschreibung. In der Vergangenheit wurde diese Fremddefinition (die in manchen Fällen durch die Protagonisten als Begriff akzeptiert wurde) in doppeltem Sinne gebraucht. Er wurde in den 1970er Jahren einerseits dazu benutzt, um Anhänger/innen des bewaffneten Kampfs („in den Metropolen“, im Hier und Jetzt) zu bezeichnen. Anderseits benannte er eine spezifische politische Unterströmung, die aus der antistalinistischen und fundamentaloppositionellen Linken kam, aber sich durch ihre eigentümlichen Thesen zunehmend aus der gesamten übrigen radikalen Opposition herauslöste: Unter Berufung auf den italienischen Theoretiker Armando Bordiga (Autor der 1960 erschienenen Schrift „Auschwitz oder das große Alibi“) nahm diese Strömung an, dass Stalinismus, bürgerliche Demokratie und Faschismus im Kern wesensgleich seien. Einzelne ihrer Protagonisten landeten später beim Auschwitz-Leugnertum – von dem manche von ihnen später vollständig wieder abkamen (wie der libertäre Kriminautor Serge Quadruppani), während einzelne Individuen und Bruchstücke der früheren ‚Ultragauhe’ (insbesondere Dominique Michel und die Zeitschrift ‚La Vieille Taupe’) später definitiv im Umfeld der extremen Rechten landeten. Jene, die den Weg bis hin zu den rechtsextremen Auschwitzlügnern als „Systemopponenten vom anderen Ufer“ nicht mitgegangen sind – und das ist die Mehrheit der „Ultralinken“ aus den frühen 70er Jahren -, arbeiteten dieses Kapitel ihrer Geschichte 1996 in einer Broschüre ‚Libertaires et ultragauche contre le négationnisme’ (Libertäre und Ultralinke gegen die Holocaust-Leugnung) gründlich auf. Zum Inhalt dieser Broschüre gäbe es noch Einiges, auch Kritisches, anzumerken, aber dazu soll einmal an anderer Platz sein.
Heute bezeichnet der Begriff „Ultralinke“, der vorwiegend durch die Staatsmacht herbei definiert und auf eine spezifische Unterströmung – die in jüngerer Zeit aus der anarchistisch-autonomen Linken hervorging – übergestülpt wird, wiederum ein anderes politisches Phänomen. Die solcherart nunmehr ins Visier der Staatsmacht geratene Strömung umfasst, laut Innenministerin Michèle Alliot-Marie, frankreichweit „rund 300 Personen“.
Nun also zurück zu der Broschüre, die ihr Manifest darstellen soll – und damals, bei Erscheinen im März 2007, angeblich erstmals die Alarmglocken bei den Ermittlungsbehörden schrillen ließ.
Auch darüber ist inzwischen übrigens Näheres bekannt: Das Büchlein fielm demnach 2007 zufällig im Pariser Kulturkaufhaus FNAC dem „Sicherheitsberater“ Alain Bauer in die Hände. Bauer, der gewöhnlich im Duo mit seinem Beraterkollegen Xavier Rauffer – ein früheres Mitglied der rechtsradikalen studentischen Schlägerorganisation OCCIDENT, die von 1964 bis zu ihrem Verbot 1968 bestand – auftritt, verkauft hauptberuflich „Sicherheitskonzepte“ an staatliche oder kommunale Behörden. Gleichzeitig verfasst er Gutachten und „Studien“ über die Innere Sicherheit, über die Gefährdungen und Bedrohungen, denen sie ausgesetzt sei. Diese Schriften, die oft in apokalyptischem Tonfall verfasst sind und in bürgerlichen Medien mitunter gern zitiert werden, erlauben es ihrem Urheber dann wiederum, seinen Schrott besser zu verticken. Ein Kreislauf, der sich selbst unterhält… Nachdem besagter Alain Bauer das fragliche Büchlein also gelesen hatte, kaufte er sogleich 40 Exemplare davon auf – na ja, immerhin gut für’s Geschäft des Verlegers. Diese stellte er dabei daraufhin keineswegs ins Regel, was ihn wiederum waaahnsinnig verdächtigt gemacht hatte (Lesen und Bücherbesitz macht gewalttätig!), sondern lieb die 40 Exemplare- ausgewählten Spitzenfunktionären der Polizei und des Inlandsgeheimdiensts zukommen. Und zwar mit einem warnenden Beiwort im Sinne von: „Guckt mal!“
Daraufhin ordnete Innenministerin Alliot-Marie an, ihr einen Rapport über die Gefahren der „Ultralinken“ zu erstellen. Aber zack! Nachdem sie schon vorher entsprechend Druck auf ihre Untergebenen ausgeübt und ihre persönliche Auffassung zum Thema – brandgefährlich, die ultralinke Bedrohung! – ziemlich klar unterstrichen hatte, fiel das Resultat denn auch aus, wie man es erwarten konnte. Im Juni 2008 übergab die, damals gerade frisch eingerichtete, neue Zentrale für die Inlandsgeheimdienste DCRI einen entsprechenden Rapport. (DCRI: Unter ihrem Dach wurden seit dem Frühsommer 2008 der bisherige polizeiliche Nachrichtendienst – RG – sowie die bislang dem Militär unterstellte Spionageabwehr – DST – zu einer neuen, kompakten Struktur verschmolzen. Kritiker/innen sprechen von einer Zentralisierung polizeilicher und nachrichtendienstlicher Befugnisse, infolge derer eine militärische und in der Spionageabwehr verwendete Logik beim Nachrichtensammeln auch auf polizeiliche Tätigkeit ausgeweitet zu werden drohe. Daraus drohe die Gefahr, einen „inneren Feind“ nach einer ähnlichen Logik wie einen militärisch bedrohlichen, äuberen Feind wahrzunehmen und zu analysieren.)
In dem „Untersuchungsbericht“ wimmelt es, folgt man Zusammenfassungen in den Berichten gut unterrichteter Journalist/inn/en, von Vergleichen zu den Anfängen von ‚Action Directe’ und ihres bewaffneten Kampfes. Das Dokument, das circa 40 Seiten umfasst, trägt den Titel: „Vom Anti-CPE-Konflikt zur Herausbildung eines prä-terroristischen Netzwerks: Blicke auf die französische und europäische Ultralinke.“ Die Ministerin zeige sich eisern überzeugt davon, wusste unlängst die ‚Le Monde’-Journalistin Isabelle Mandraud zu berichten, dass „die Demonstrationen gegen den CPE“ die Bedrohung durch eine neue „Ultralinke“ belegt hätten. (Anmerkung.: CPE: ‚Ersteinstellungsvertrag’ oder ‚Contrat première embauche’, also das Projekt, den Kündigungsschutz auszuhebeln, das im April 2006 nach breiten Demonstrationen und heftigen Protesten unter Präsident J. Chirac beerdigt werden musste.)
Ach ja, laut einem Artikel derselben Journalisten – der in der Ausgabe vom Abend des 3. Dezember erschien – waren nachträglich nicht alle Mitarbeiter im Innenministerium gar so sehr vom behaupteten, brandgefährlichen Charakter der „Ultralinken“ überzeugt. Den Zweiflern wurde demnach jedoch entgegen geschleudert: „1917 fing es auch so an!“ Naja, wenn die herrschende Klasse respektive ihre Innenministerin schon mit einer Neuauflage der Oktoberrevolution rechnet, dann muss doch ein ziemliches Zähneklappern herrschen… (Vgl. auch http://www.mediapart.fr )
Ein Gutteil der „Terror“-Anklage gegen Jene von Tarnac beruht heute im Übrigen auf genau dieser Schrift („Der Aufstand, der kommt“): Einerseits vermutet die Staatsmacht, der angebliche „Rädelsführer“ Julien Coupat sei einer ihrer Autoren oder ihr hauptsächlicher Verfasser. Andererseits wird zu Ungunsten mehrerer der „Verdächtigen“ die Tatsache verwendet, dass bei Hausdurchsuchungen ein Exemplar dieser Schrift – die, noch einmal, im Buchhandel frei verkâuflch ist – auf ihren Bücherregalen gefunden worden war.
Die Neun von Tarnac wurden ferner durch die Staatmacht zunächst als „Unsichtbare Zelle“ bezeichnet, in offenkundiger Anlehnung an den Titel des Verfasserkollektivs („Die Unsichtbaren“ oder „Unsichtbares Kolllektiv“). Es wurde sogar behauptet, diese „unsichtbare Zelle“ besitze Kontakte zu weiteren „ähnlichen Zellen in Deutschland, Griechenland, Italien und den USA“ (vgl. http://www.lexpress.fr/). Anscheinend sind die Letztgenannten allerdings so gut „unsichtbar“, dass bislang niemand um ihre Existenz wusste… Geheime Zellen, so geheim, dass selbst ihre Mitglieder sie nicht mal kennen? Genannt wurden, neben jenen Ländern, ferner auch „Verbindungen“ nach Belgien, Grobbritannien sowie Kanada (vgl. http://www.google.com/ ).
Inzwischen taucht dieser Begriff von der „Unsichtbaren Zelle“, nachdem die Ermittlungsprozedur bislang für die Staatsmacht doch eher peinlich ablief, inzwischen in der Presse nicht wieder auf. Und die Angaben des französischen Innenministeriums gegenüber den Zeitungsredaktionen (etwa ‚Le Monde’) lauten inzwischen, die internationalen Kontakte der angeblichen Terrorgruppe von Tarnac sei eher auf der Ebene von „Ideengleichheit“ und einer „ähnlichen Ideologie“, denn auf jener irgendwelcher gemeinsamen Strukturen zu suchen. Hm, „Kriminalisierung der Gesinnung“, haben Sie gesagt? Watson, übernehmen Sie…
Eine höchst fragwürdige politische Konzeption
Zurück zum INHALT der, solcherart wohl durch die Staatsmacht ziemlich überschätzten…, Broschüre respektive des Manifests in Buchform. Dessen Verfasser/innen gehen davon aus, dass das bestehende Machtsystem heute kein Oben und kein Unten oder kein „Zentrum“ mehr kenne, sondern im Zeitalter der „Vernetzung“ – durch Internet und ändere Kanäle – vielmehr allgegenwärtig sei. Sie sprechen von den „Saugnäpfen“ (pseudopodes) des Machtsystems, die sie in Gestalt von Sozialinitiativen, auch linksradikalen Parteien, Gewerkschaften und Bewegungskollektiven am Werk sehen. Sie alle übernähmen die logische Struktur – „die Form, die Moral und die Sprache“ – „des Staates, nur in Miniaturform“. Stattdessen müsse man sich völlig auberhalb des Bestehenden stellen.
Praktisch heruntergebrochen, würde dies etwa bedeuten, die Aktionsform eines Kollektivs der ‚Sans papiers’ – also „illegalisierten“ Migranten – oder eines gewerkschaftlichen oder anderswie organisierten Streikkomitees konsequent abzulehnen. Denn diese platzieren sich ja in der Regel innerhalb der bestehenden Gesellschaft, um, an einem konkreten Punkt ansetzend, für Veränderungen zu kämpfen: „Illegalisierte“ Migranten kämpfen etwa für ihre „Legalisierung“, werfen dabei jedoch – oft- die Frage nach Migrationsursachen und internationalen Beziehungen mit auf.
Dadurch situiert man sich, folgt man der Ultragauche, mitten im falschen Bestehenden. Stattdessen gelte es, alle „Saugnäpfe“ abzuschütteln und sich über radikale Aktionen selbst – im totalen Bruch mit dem Machtsystem – zu definieren. Da die Macht aber kein Zentrum mehr habe, sondern netzwerkförmig überall sei, müssten nun ebendiese Netzwerke durchtrennt werden. Dies könne beispielsweise durch Computersabotage geschehen, durch Lahmlegen eines Hochgeschwindigkeitszugs (TGV) oder eines elektrischen Stromnetzes. Denn dies alles wird als Netze dargestellt, die das falsche Ganze am Laufen hielten.
Höchst problematisch ist der extrem zugespitzte Avantgardismus, der in dieser Vision zum Ausdruck kommt. Militante Aktionen sind darin an keinerlei Notwendigkeit einer unmittelbar zu verwirklichenden politischen oder sozialen Zielsetzung, keinerlei Erfordenris der Beeinflussung eines Kräfteverhältnisses mehr gekoppelt. Auch entfällt jede Notwendigkeit einer Rechtfertigungsfähigkeit für eine – oppositionelle – politische Öffentlichkeit. Die Aktion legitimiert sich total aus sich selbst heraus, als behaupteter „Bruch“ mit dem Bestehenden, und braucht von Niemandem sonst verstanden zu werden. (Bzw. man geht davon aus, dass der Sinn einer solcherart motivierten Sabotageaktion spontan von alleine, und potenziell durch Alle, verstanden wird.)
Lässt man im Jahr 1944 einen Zug mit Nazisoldaten an Bord entgleisen, stoppt man (heutzutage) einen Waffentransport oder auch Atommüllzug – im Zusammenhang mit breiteren Prosten gegen die vermeintliche „Entsorgung“ von Nuklearabfällen -, kann man dadurch einen realen Kampf befördern. Stoppt man hingegen ohne näheren Anlass einen TGV oder lässt den Nahverkehr im Pariser Norden zusammenbrechen, dürfte dies auch bei den Ausgebeuteten bestenfalls Unverständnis hervorrufen. Von den zu ihrer Drecks-Arbeit fahrenden Putzfrauen und Malocher/inne/n bis zum Sozialhilfeempfänger auf der Sitzbank daneben. (In den Tagen nach den Festnahmen im französischen Fernsehen nach den Aktionen gegen TGV-Züge befragt, erklärte der frühere Präsidentschaftskandidat aus der radikalen Linken, Olivier Besancenot, ebenfalls seine scharfe inhaltliche Distanzierung: „Wir wollen nicht weniger, sondern mehr Züge. Die wahren Saboteure sind jene, die die Bahn privatisieren und ganze Strecken wegen ‚Unrentabilität’ stilllegen möchten. Unsere Aktionsformen sind Vollversammlungen der Beschäftigten im Streik und soziale Massenbewegungen.“ Vgl. auch http://www.lepoint.fr/
Nichtsdestotrotz hat seine Organisation, die – ab Januar 2009 sich in eine breitere antikapitalistische Sammlungspartei hinein auflösende – LCR, sich in ihrer Wochenzeitung ‚Rouge’ mit den Beschuldigten gegen Konstrukte des Ermittlungsapparats solidarisch erklärt. – Die linksalternative bis radikal linke Basisgewerkschaft SUD-Rail, die bei der französischen Bahngesellschaft SNCF gut verankert ist, wandte sich ihrerseits scharf gegen „jene, die Terrorismus und gewerkschaftliche Kampfmittel in gegenseitige Nähe rücken möchten“. Damit richtete sie sich gegen Kriminalisierungsversuche und -vorwürfe, die soziale Bewegungen treffen sollen, aber auch gegen die Sabotageaktionen als solche.)
VORLÄUFIGE Bilanz
Die „Ultralinke“ soll, laut Innenministerium, in Frankreich „rund 300 Personen“ umfassen. Ihren politischen Konzepten ist, auf inhaltlicher Ebene, auch kein breiterer Erfolg zu wünschen. Allerdings zeichnet sich ab, dass die jüngsten Ereignisse – und die Verbindungslinie zu Demonstrationen, an denen die jetzt Verdächtigen teilgenommen haben oder bei denen sie gesehen worden sein sollen – der Staatsmacht einmal mehr dazu dienen werden, auch andere Bestandteile von sozialen Bewegungen in die Nähe von Kriminalität zu rücken. Wer immer auch zur so genannten ultragauche dazu gehören mag: Es muss als wahrscheinlich gelten, dass die Betreffenden in oder am Rande von sozialen Bewegungen aktiv sind, und ihre Bewegungen in Letztere hineinzutragen versuchen.
Irgendwelche konkreten Beweise benötigt die Staatsmacht allerdings ohnehin kaum. So hatte das Innenministerium im November 08 angekündigt, jetzt „Verbindungen zu Linksradikalen in Deutschland, die ihrerseits Züge mit Atommüll zum Stoppen bringen“ näher zu untersuchen: Angeblich handele es sich dabei um einen ähnlichen Aktionsmodus. In Wirklichkeit handelt es sich um zwei völlig unterschiedliche Dinge und Konzeptionen vom gesellschaftlichen Kampf. (Diese „Spur“ war anscheinend von den, zunächst laut hinaus posaunten, „internationalen Kontakten“ der „unsichtbaren Terrorzelle“ am Schluss noch übrig geblieben..)
Dass der Staatsapparat aber von der entstehenden politischen Verwirrung profitiert, um unterschiedliche gesellschaftliche Kämpfe zu kriminalisieren, ist leider ebenfalls nichts Neues.
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