FAZ: Kleine Attentäter von der Ebene der tausend Kühe

Die Genfer Göre ist wieder frei. Sechs Jahre war Aria Thomas permanent im Fernsehen zu sehen. Sie spielte in einer Familienserie die leicht rebellische Tochter. In der Rolle der Mutter: Lolita Morena, ehemalige Miss Schweiz und vorübergehend die Frau von Lothar Matthäus. „Sie war in einer besetzten Wohnung aufgewachsen“, erzählt Lolita Morena und kann es nicht fassen, dass ihre Fernsehtochter eine Attentäterin und Terroristenbraut sein soll. Die Serie lief zwischen 2000 und 2006. Seither hat man die sechundzwanzigjährige Aria Thomas in den Studios kaum mehr gesehen.

Aber nicht vergessen. Die Nachricht von ihrer Festnahme hat einen Riesenwirbel ausgelöst. Verhaftet wurde sie zusammen mit neun anderen Mitgliedern einer Gruppe, welche vom französischen Verfassungsschutz seit Monaten observiert wird. Das Zentrum der terroristischen Vereinigung soll ein alternativer Tante-Emma-Laden in der tiefsten französischen Provinz sein, in Tarnac, im Departement der Corrèze – auf dem „Plateau des Mille Vaches“, der Ebene der tausend Kühe. Aria Thomas wohnt hier in einer Wohngemeinschaft auf dem Bauernhof. Täglich haben die französischen Fernsehsender von der neuen Terroristenfront berichtet, den Laden gefilmt und die Nachbarn im Dorf mit dreihundertfünfzig Einwohnern befragt. In den Kinos war gerade der Baader-Meinhof-Film angelaufen.
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Epoche der Unordnung

Als „Hirn“ der Gruppe mit der schönen Schauspielerin in der Nebenrolle der verführten Mitläuferin wird ein Philosoph vermutet. Julien Coupat, vierunddreißig Jahre alt, hat an der renommierten Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales studiert – vielleicht noch bei François Furet, der in seinen letzten Vorlesungen vor dem Aufkommen einer neuen Utopie und politischen Gewaltbereitschaft warnte. Coupat gehörte zu den Begründern der Zeitschrift „Tiqqun“, dem „Bewussten Organ der imaginären Partei“.

Als Gemisch aus Situationismus und Postmaterialismus wird die Ideologie von „Tiqqun“ beschrieben. „Mit Spuren im jüdischen Messianismus“, befindet das „Figaro-Magazine“. Anderswo ist von einem „Potpourri aus Talmud und Heidegger“ die Rede. Zur Rolle des Staats hätten die Autoren auch gescheite Ideen formuliert. „Tiqqun“ kündete eine „neue historische Epoche extremer Gewalt und großer Unordnung“ an. Nach zwei Nummern allerdings wurde die Zeitschrift eingestellt.

Vorbereitung des Terrors

Im Winter 2005 spielten die jetzt Verhafteten bei der Besetzung des Collège de France, der Sorbonne und der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales eine zentrale Rolle. Als „exemplarisches Modell“ werden die damaligen Ereignisse in einem kürzlich erschienenen Buch (mit Coupat als Autor) bezeichnet: „Es gab keinen Führer, keine Forderung, keine Organisation.“ In dieser Schrift mit dem Titel „Der kommende Aufstand“ wird das Vorgehen beschrieben: Netzwerke lahmlegen, Radiowellen zum Schweigen bringen „und die Bahnverbindungen der TGV-Schnellzüge unbrauchbar machen“.

Genau das ist in den vergangenen Monaten wiederholt geschehen. Der Euro-Star kam zum Stehen. Betonblöcke wurden auf Schienen gelegt, Hochspannungsleitungen manipuliert. Kein Zug entgleiste, kein Mensch wurde verletzt, doch leicht hätte Schlimmes passieren können. Der materielle Schaden ist beträchtlich, Zehntausende von Menschen mussten stundenlange Verspätungen in Kauf nehmen. Die Innenministerin sprach von der Aufdeckung einer „anarchistisch-autonomen Terrorszene“.

Strafe für Ideen

„Alles abstreiten“ – auch dieser Ratschlag steht in „Der kommende Aufstand“, das genaue Sabotageanleitungen enthält. Aria Thomas ist wieder frei – bei Anschuldigungen in Sachen Terrorismus darf die Untersuchungshaft nicht länger als vier Tage dauern. Als Mitläuferin riskiert sie eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren. Bei den Anführern kann das Urteil auf zwanzig Jahre lauten. Die DNA-Analysen sind im Gange, aber in Frankreich, wo die Toleranzschwelle für politische Gewalt hoch ist, sind nicht wenige der festen Überzeugung, dass „die Kurzschlüsse vom Text zur Tat“ voreilig gezogen wurden.

Ein Freund, der Julien Coupat kennt, beschuldigt die Polizei, „einen Philosophen auf Grund seiner Ideen einzusperren“. In „Libération“ wirft der Medienkritiker Daniel Schneidermann dem Fernsehen und einzelnen Zeitung eine gezielte Aufbauschung und kollektive Inszenierung vor: „So produziert man Schreckgespenster“ und führt sie der Gesellschaft vor. Auch die Tatsache, dass bei den Verhafteten eine ausgiebige Baader-Meinhof-Dokumentation gefunden wurde, sei kein Beweis. „Sie wollen nicht töten“, sagt der Schriftsteller und ehemalige Maoist Christoph Bourseiller, der ein informiertes Buch über die extreme Linke geschrieben hat. Er spricht von einer Bewegung, die drei- bis vierhundert Personen mobilisiert. Ihre Taten nennt er „eine Reihe von kleinen Attentaten“.

copy/paste: faz.net