Debatte in Frankreich: Sind Zugverspätungen "Terrorismus"?
Die Verhaftungen von Tarnac haben in Frankreich eine breite Diskussion ausgelöst, ob das Herbeiführen von Zugverspätungen als Terrorismus zu bezeichnen ist.
Am 8. November, rund um den Castor-Transport, haben wohl bis zu 40.000 Reisende in Frankreich für 6 Stunden an den Bahnhöfen gewartet. 160 Züge fielen aus, 4 Strecken waren betroffen. So fragt die französische Zeitung Liberation: "Terroristen? Wirklich?". Daniel Cohn-Bendit beschuldigt die Polizei, "Menschen die die Gesellschaft kritisieren an den Rand des Abgrundes zu treiben", schreibt Liberation am 28.11. In einer Stellungnahme drücken die französischen Grünen zwar ihre
Kritik an der Konstruktion eines "terroristischen Unternehmens" aus,
distanzieren sich aber frontal vom "Vandalismus" (womit das Anbringen
der Hakenkrallen gemeint ist).
Währenddessen betreibt die Regierung unter Federführung der Innenministerin Michele Alliot-Marie weiterhin die Kriminalisierung der Festgenommenen als "Ultralinke", die fern jeder demokratischer Meinungsäußerung agierten und sich extrem gewalttätig äußerten. In Frankreich haben Regierung und Polizei den Begriff "anarcho-autonom" geprägt, der seit Monaten eine zunehmende Repression linksradikaler, anarchistischer Strukturen begleitet. Die meisten der Verhafteten kommen scheinbar aus "Mittelklassefamilien", schreibt das Portal Bloomberg. Isabelle Montagne, Sprecherin der Staatsanwaltschaft, behauptet dort dass Julien Coupat, dem bis zu 20 Jahre Haft drohen (er gilt als "intellektueller Kopf"), für ein kürzlich erschienenes Manifest verantwortlich sei. Das Buch "The Coming Insurrection" ist auch auf deutsch im Umlauf ("Der Aufstand") und ruft unter anderem zu Aktionen gegen Infrastruktur wie Schienen auf. Wegen solcher impliziter Drohungen sei die Polizei auf "Coupats Gruppe" (so drückt es ein Kriminologe aus) aufmerksam geworden. Nach den Verhaftungen hat die Polizei ein Heft präsentiert, das angeblich in Tarnac gefunden worden sei ("Das vergessene schwarze Notizbuch"). Dort tauchen Notizen über Baustahl auf (wie er zur Herstellung von Hakenkrallen verwendet werden kann). Allerdings äußert das Journal du Dimanche Zweifel an der Herkunft des Notizbuchs. 2 Wochen nach der Razzia hatte die Polizei offensichtlich keinerlei Beweise für die vorgeworfenen Aktionen und sprach lediglich von "Indizien".
Gilbert Thiel, ein französischer hoher "Anti-Terror"-Beamter, erklärt dass im "gegenwärtigen ökonomischen Klima" mehr "Terrorismus" zu erwarten sei.
Währenddessen scheinen die BewohnerInnen des Dörfchens Tarnac weiterhin viel Sympathie für die Tarnac9 zu empfinden. Sie seien "nette junge Leute", im Falle ihrer Freilassung ist ein rauschendes Dorffest angekündigt.