ANTITERRORISMUS-PARANOÏA IN CHAMBERY-COGNIN – Zweite Verhaftung.

Lucas1  wurde nach Fresnes [eines der drei Hauptgefängnisse von Paris und eines der wichtigsten in ganz Frankreich, d.Übers.] gebracht

Am Freitag den 8. Mai ist Rafou für unbestimmte Zeit in Untersuchungshaft genommen worden und zwar am Ende der 96 Stunden GAV [Garde-à-Vue = Gewahrsam] und nach einer wahren Parodie von Vorführungen vor dem Richter: noch vor seinem Eintreten ist sein Los entschieden und besiegelt gewesen. Kaum wurde das Plädoyer seines Anwaltes gehört, sicher ist, dass weder er noch die Zeugen für sein Alibi angehört wurden.

Beim Verlassen des Saales hat der Richter erklärt, dass es nicht nötig sei, sich bis zum Ergebnis des Urteils zu gedulden, er hat Rafou direkt in Haft nehmen lassen.Aber die Verhaftung eines Genossen hat den reißenden Appetit der allmächtigen antiterroristischen Anordnung nicht gesättigt, auch nicht den seiner Diener: am Montag den 11. Mai morgens, sind Lucas und ein Freund direkt, nachdem sie mit dem Zug am Bahnhof von Chambéry ankamen, in ein Anwaltsbüro gegangen, das 150 Meter davon entfernt liegt. Zehn Minuten später, nachdem sie es verlassen hatten, erhält der Anwalt einen Anruf vom verantwortlichen Bullen der SDAT [Anti-Terrorismus-Abteilung der Polizei] in Paris, um ihn zu fragen, ob er deren Identität bestätige. Wer könnte glauben, dass man uns verfolgt und überwacht? Sicherlich ein Zufall…

Am Rande davon, ist die BAC [brigade anticriminalité; ursprünglich eine Einheit, die speziell nachts aktiv war; Aufgabengebiet heute z.B. der Kampf gegen "violence urbaine", sog. Straßengewalt] wie die Cowboys ständig unterwegs, jeden Tag hin- und her fahrend und immer am Kontrollieren. Man kann durch Blitzlichter mitkriegen, dass sie einige Fotos machen.

Die SDAT sucht nach mehreren Personen: Rafou und Lucas wurden bereits verhaftet, die anderen warten, bis sie an der Reihe sind. Alle, die das Pech haben, in einem Haus zu wohnen, wo ein leerer Feuerlöscher gefunden worden ist (organisiert beim Containern), wo es einen elektrischen Kondensator gibt (demontiert, weil die Flüssigkeit, ihn gefährlich macht) und wo es eine Rolle Metall-Klebestreifen [Isolierband?] gibt (was dazu dient, Holzöfen und Rohrleitungen zu isolieren [?]).

Wertvolle Beweise mit Konsequenzen, die wir kennengelernt haben. Konkret ist die einzige Sache, die sie belasten kann der Lastwagen von Mike [Mike ist bei der Explosion schwer verletzt worden und liegt mit Brandverletzungen im Krankenhaus; d.Übers.], der vor dem Haus geparkt war. Sie haben ihren Namen auf dem miesen Briefkasten.

Lucas hat sich dafür entschieden, sich direkt im Büro der SDAT in Levallois-Perret zu melden, wohin er Dienstag den 12.5. gegen 11 Uhr gegangen ist – für 96 Stunden also, ohne Möglichkeit seinen Anwalt vor Ablauf von 72 Stunden zu sehen (und auch das nur für eine halbe Stunde, keine Sekunde länger). Aber hatte er wirklich die Wahl?

Denn es funktioniert folgendermaßen: es gibt keine schriftliche Vorladung an die Betroffenen. Es gibt die Möglichkeit, sich auszuliefern, wobei man weiß, dass der einzig mögliche Ausgang der Gewahrsam und die Haft ist; die Möglichkeit, auf eine Vorladung zu warten, die niemals kommt, oder auf der Straße geschnappt zu werden oder wo auch immer wie ein gejagtes Tier. Mit der erwarteten Zärtlichkeit; oder die Möglichkeit der Flucht. Also, welche Wahl hat man wirklich?

Bei Lucas ist die Wahl darauf gefallen, selbst zu entschieden, in welchem Moment er gefasst wird und unter welchen Umständen.

Lucas hat den Mut gehabt, dies so zu machen. Er wusste, was ihn erwartete. Er hatte wenig Zweifel am Ausgang seines Gewahrsams und seiner Vorführung: er ist diesen Freitag in Untersuchungshaft gekommen. Das Szenario war bereits vorgeschrieben. Das Szenario einer «Vereinigung von Straftätern mit dem Ziel, terroristische Handlungen zu begehen und auf die Sicherheit des Staates zu zielen», was an sich schon die Aufstellung von 130 Bullen für eine Hausdurchsuchung und die Verhaftung von Rafou legitimiert; und «Vernichtung von Beweismitteln», weil sie nicht verstehen können, dass man in diesem momentanen Ausnahmezustand Angst haben kann, bestimmte Schriften, bestimmte Bücher, (die im freien Verkauf sind), zu besitzen, wenn man weiß, dass gleich die Bullen einreiten. Das Beispiel der Konfiszierung von Büchern durch die Anti-Terror-Einheit im Kofferraum von Tessa [eine Aktivistin aus einem der vielen Soli-Komitees, die am 5. Mai in Paris auf offener Straße in ihrem Auto verhaftet worden ist, vgl. http:tarnac9.noblogs.orgpost20090520die-festnahme-von-tessa-vom-unterst-tzungskomitee-paris; d.Übers.] letzte Woche illustriert die Situation recht gut.

Insofern hätte es überhaupt keinen Sinn gemacht, Lucas freizulassen. Ihn rauszulassen hieße, die Absurdität der gesamten Anordnung und der durchgeführten Maßnahmen zuzugeben und das Gesicht zu verlieren, wenn man sich auf einmal klar darüber würde, dass dieser ganze entfesselte Aktionismus letztlich zu nichts geführt hat.

Es gibt nichts gegen sie. Nur die Unmöglichkeit, in dem Spiel komplett geschlagen zu sein [???]

Nachdem, was in der Luft liegt, ist es nicht Zeit, sich zu entspannen. Es ist die modernde Luft der Gefängnisse, die auch auf diejenigen ein Lähmungs- und Erstickungsgefühl ausstrahlt, die sich außerhalb seiner Mauern befinden. Es geht darum, eine Kartographie der Räume zu erstellen, in denen alternatives Leben gelebt wird und in denen widerständige Politik praktiziert wird. Es geht darum, Angst zu schüren in diesen alternativen Milieus und beim Rest der Welt, der diese dort bisher einfach so leben lässt. Es geht darum, das Bild vom Messer zwischen den Zähnen zu bewahren und zu transportieren.

Lucas wurde am Freitag den 15. Mai nach Fresnes gebracht, für eine Zeitdauer, die bisher noch unbestimmt ist.

Es ist die erhoffte Gelegenheit, die Karteikarten wieder hervor zu holen, denen wir unterworfen sindauf die wir reduziert werden. Es geht darum, zur De-Humanisierung von Menschen beizutragen, indem man sie hinter Zahlen und Gitterstäben wegsperrt.

Der Unterschied zwischen dem Drinnen und dem Draußen ist die Materialisierung des Einsperrens. «Drinnen», die Gitterstäbe. «Draußen», die BAC [Brigade Anti-Criminalité; Bulleneinheit], die Videoüberwachung, die Kreditkarten, die «Dienste» der Polizei, das FNAEG [nationales Register für genetische Beweise (DNA etc.) der französischen Polizei; existiert seit 1998, ehemals für Sexualstraftaten gedacht, seitdem beständig ausgeweitet] und die DNA-Entnahmen, die Strich- bzw. Barcodes, die riesigen Datenbanken voll mit Informationen, die Allmacht der Polizei, die «Justiz» mit ihren 120 Gängen, die Kriminalisierung von Solidarität, etc. etc….

Wir sind «frei», aber unsere Ketten sind überall.

Letztendlich hat Lucas nichts anderes gemacht, als ein erduldetes Eingesperrt-Sein mit einem «gewählten» Eingesperrt-Sein zu tauschen. Trotz der Tatsache, dass in dieser ganzen Geschichte das einzige Schicksal, das ihm – wie uns – an der Haut klebte der Fakt war, dass er jemanden kennt, bleibt die Trauer um eine Freundin.

Ein Treffen des Unterstützungs-Komitees hat hier in Chambéry bereits stattgefunden, bei dem sich zwischen 40 und 50 Personen versammelt haben. Das nächste wird stattfinden am Freitag, 22. Mai um 18 Uhr im Infoladen "Les Pilos" (rue des Bernardines 132)

Wir haben auch die Adresse von Rafou und Lucas und die dazugehörige Gefangenennummer [Buchnummer].

Wenn Ihr ihnen schreiben wollt, schickt Eure Nachrichten bzw. das, was Ihr Ihnen senden wollt an diese Adresse:

Les inculpés
132 avenue des Bernardines,
73000 Chambery

oder an:
lesinculpes@gmail.com

Solidarität und Freiheit für Rafou, Lucas, Mike (der immer noch im Krankenhaus ist in einem ernsthaft gefährlichen Zustand) und für alle, die trotz ihres Eingeknastet-Seins freier sind, als es manch andere jemals werden können!

Für Zoe, immer in unseren Gedanken und in unseren Herzen.

Unterstützungs-Kollektiv von Chambéry für die Beschuldigten von Chambéry-Cognin

18. Mai 2009

1 Spitzname, weil er wünscht, anonym zu bleiben, so weit das möglich ist

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