Kollektiv zur Unterstützung der Beschuldigten von Chambéry
Mittwoch, 13. Mai 2009
Am 30. April haben die BewohnerInnen von „Les Pilos“ einen Brief mit einer Vorladung vom Bürgermeisteramt der Stadt Chambéry (eine „linke“ Stadt und das ganze tralala…) erhalten. Am Rande davon haben sich in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai die Begebenheiten von Cognin abgespielt, von denen wir vor Freitag, dem 1. Mai abends auch noch keine Kenntnisse gehabt hatten.
Die Vorkommnisse in Cognin haben zu Ermittlungen geführt, zu einer Untersuchung die der SDAT (Antiterrorismus-Abteilung) von Paris anvertraut worden ist und dazu, dass Rafou im Rahmen dieses ganzen Wahns 96 Stunden in „GAV, Garde à vue“ [Untersuchungs-Gewahrsam] genommen wurde.
Am Freitag den 8. Mai hat eine unangemeldete Demonstration aus Solidarität mit „Les Pilos“ in den Straßen von Chambéry stattgefunden, aber auch zur Unterstützung von Rafou. Etwa 200 Personen verschiedenster Herkunft (KünstlerInnen, Jongleure, BewohnerInnen, FreundInnen, PolitikerInnen, NachbarInnen, regelmäßige – oder weniger regelmäßige – BesucherInnen der Veranstaltungen des Zentrums…) haben sich dort versammelt, trotz des nicht aufhören wollenden Regens. Der Marsch dauerte etwa zwei Stunden in den Straßen der Stadt und fand ohne Zwischenfälle oder Auseinandersetzungen mit den „Sicherheits“-kräften statt, trotz deren Präsenz in zivil oder Uniform, um den Bahnhof oder die Präfektur zu „verteidigen“, wo sie sich verschanzt hatten.
Alles hat gut geklappt, alle sind sicher nach Hause gekommen, aber es wurden mit Sicherheit viele Fotos dort gemacht [von der Polizei].
Rafou wurde am selben Nachmittag vor den für Antiterrorismus zuständigen Richter gebracht, am Ende seines 96 Stunden dauernden Gewahrsams – einen Nachmittag lang, den wir am Telefon hingen, um Neuigkeiten zu erfahren, Neuigkeiten, die sich als schlechte Nachrichten entpuppten: nach Ende der Sitzung mit dem Untersuchungsrichter (die etwa siebeneinhalb Stunden gedauert hat), wurde er von Neuem verhört, dieses Mal vom Haftrichter. Und das Gericht hat „détention provisoire“ [Untersuchungshaft] gegen Rafou verhängt.
Er wurde in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai nach „La Santé“ [ein altes großes Gefängnis in Paris, das letzte innerhalb der Stadtmauern, dessen Besonderheit u.a. ist, dass Gefangene dort nach ihrer ethnischen Herkunft getrennt in Blöcken untergebracht werden] gebracht. Und er müsste nach unseren Informationen dort mindestens drei Wochen bleiben, wobei ihm eine „Sonderbehandlung“ bevorstand, die für Leute reserviert ist, die im Rahmen von Antiterrormaßnahmen eingesperrt werden: ankommende und versendete Post wird gelesen und kontrolliert, minimale Anzahl von Besuchen im Sprechzimmer (was letztlich bedeutet: nur sein Anwalt und seine Eltern), verschiedenste und zahlreiche Verbote (die Bücherei zu benutzen, zu arbeiten, was nur zwei von vielen Beispielen sind), kein Kontakt mit dem Normalvollzug [?] und das, obwohl er nicht [mehr?] im Hochsicherheitstrakt QHS ist [„Quartier de Haute Sécurité“ – eigentlich 1981 abgeschafft und durch „QI“, „Quartier d’Isolement“ ersetzt].
Was steht in seinem Dossierseinen Akten? Nichts. Und er hat ein Alibi, mehrere Zeugen: an diesem Abend spielte Rafou mit Freunden Karten. Seine ZeugInnen sind bereit, dies auszusagen. KeineR wurde gehörtverhört. Das wirft die Frage auf, wessen er angeklagt ist. Die Begründung, die heramgezogen worden ist lautet: «Vernichtung von Beweismitteln».
Welche Überlegungen sind anzustellen, welche Schiene kann man nehmen, um die Situation zu verstehen, in der Rafou ist? Am Tag der Durchsuchungen im „Les Pilos“ ist er der einzige von 11 Personen, den sie in Gewahrsam behalten haben. Die Frage, die man sich zu stellen hat, ist nicht «Warum er?». Denn es ist egal, wer von uns an seiner Stelle hätte sein können, heute ist es er, morgen ich und dann wir und schließlich ihr.
Was Rafou angeht, was all die anderen angeht, die bei ähnlichen Prozeduren eingeknastet wurden, es ist immer die gleiche illusorische Zelle, Bewegung, oder wie auch immer wir sie nennen mögen, gerne auch die «anarcho-autonome», von der man so viel reden hört in letzter Zeit, auf die gezielt und gegen die gehetzt wurde.
Ist es ein Zufall, dass die mit den Untersuchungen betrauten Beamten die gleichen sind, die mit der «Affäre» von Tarnac befasst sind? Ist es ein Zufall, dass die Ermittler die gleichen sind? Ist es ein Zufall, dass Rafou in die „Santé“ gebracht wurde, in die gleiche Abteilung wie Julien Coupat?
Komplett alle Menschen, die das Zentrum [„Les Pilos“] frequentieren, werden fotografiert, verfolgt, abgehört, über Tage hinweg werden Dossiers angelegt. Die Paranoia greift um sich. Wir sind kein Stückchen mehr frei. Wer kann da noch an Zufall glauben?
Kann man darin etwas anderes sehen als die Kriminalisierung jeglicher Form widerständiger und alternativer Politik?
Der Staat trägt in jedem seiner Arme, rechts wie links, seine Waffen, um gegen eine unsichtbare Zelle zu kämpfen. Eine Zelle, sie so unsichtbar ist, dass sie gar nicht existiert. Aber sie sind da, um sie zu erfinden, diese Zelle, indem sie sich fiktive Verbindungen ausdenken, indem sie Dinge zusammenwürfeln, die keinen Bezug zueinander haben, ohne zu verstehen, dass man jemanden auch einfach kennen oder mit jemandem verkehren kann, ohne das mindeste davon zu wissen, was in dessen oder deren Kopf vor sich geht.
Alles versinkt in einem verschörerischen und paranoiden Wahn, woher auch die Tatsache kommt, dass sie quasi unbegrenzt Maßnahmen gegen ihn anordnen. Was offensichtlich „rechtfertigt“, dass den beschuldigten Personen, die unter „Terrorismus“-Vorwurf angeklagt sind, ihre Rechte genommen werden (aber was soll man auf solch einen Begriff auch geben in Zeiten, wo selbst das RESF [Réseau éducation sans frontières, ein Bündnis verschiedener Gruppen, Gewerkschaften und Einzelpersonen, das sich gegen die Abschiebung von SchülerInnen einsetzt, deren Eltern in Frankreich illegalisiert sind], als quasi-terroristisches Netzwerk angesehen wird?).
Die kleinste harmlose Sache kann dazu führen, dass irgendwer, irgendwann, irgendwo und unter irgendwelchen Umständen mit diesen willkürlichen Gesetzen konfrontiert ist, die in diesem Teufelskreis der Konstruktion eines „inneren Feindes“ ständig verschärft und verschärft werden.
Eine Radtour wird zu einem Treffen zwischen Verdächtigen, die eine terroristische Aktion vorbereiten. Wenn man gute Beziehungen zu seinen NachbarInnen aufrechterhält, wird das ein Beweis für böse Absichten und für Vorsatz im Rahmen eines Komplotts, vgl. die Erklärungen von MAM [Michèle Alliot-Marie, der französischen Innenministerin]). Es gibt keine Unschuldsvermutung mehr. Nur noch Abstufungen von Schuld. Du, der Du diese Zeilen liest, bist bereits Komplize. Du bist der designierte Feind.
All diese Gesetze, diese Hausdurchsuchungen, diese Anklagen sind da, um die durch die Medien bestimmte Angst zu instrumentalisieren, die hervorgerufen wurde. Diese Angst soll vergrößert werden und ihre Akzeptanz verbreitert. Unschuld zählt nicht mehr viel. Die Zerstörung eines Menschen durch das GAV, den Gewahrsam oder durch die Haft zählt nicht mehr viel. Kein einziger Vorwurf wird konkret genannt, der Versuch wird gleichbedeutend mit der Umsetzung.
Das letztendliche Ziel ist es, diese fiktive anarcho-autonome Bewegung zu kreieren, sie Form annehmen zu lassen. Oder vielmehr, in dem Sinne zu handeln, dass man ihr den Kopf kürzt, bevor dieser überhaupt existiert. Und dann die Verhaftungen, die Abhörmaßnahmen, die Beschattungen, die Verhöre, die Prozesse, die Verschärfungen des Sicherheitsstaates, die willkürlichen Gesetze und die kontrollierte Verwirrung durch die Medien sowie die destillierte Angst – all dies soll vervielfacht werden. Ihr [der anarcho-autonomen Bewegung] soll die Seele genommen werden, ohne dass sie bisher überhaupt einen Körper hat.
Aber all dies wird natürlich für unsere Sicherheit gemacht.
Wie kann man das noch glauben? Wer kann daran glauben?
In Chambéry entstand ein Unterstützungskomittee für die AngehörigenNahestehenden von Rafou, trotz der Angst, trotz der greifbaren Spannung; es wurden Konzerte und andere Sachen organisiert, im „Les Pilos“ und anderswo. Das bedeutet, dass man dort die Anwesenheit von Abgesandten der Polizei in Erwägung ziehen muss.
Sie wollten uns zum Schweigen bringen, indem sie uns in den Dreck ziehen. Uns, diejenigen, die uns nahe stehen und unsere Ideen. Aber niemand darf vergessen werden, aufgegeben werden. All dies ist kein Spiel. Es ist keine kranke Show, wo man am Ende an die VerlierInnen als Trostpreis Bonbons verteilt.
All dies ist das Leben, so wie wir es kennen, es ist die Realität, die uns aufgezwungen wird, auch in UNSEREM Namen. Wer konnte besser als Louise Michel [französische Anarchistin, aktiv in der Pariser Kommune, lebte von 1830-1905] die Situation, in der wir leben beschreiben: «Meine Fahne wird schwarz sein, sie trauert um unsere Toten und um unsere Illusionen»?
Unterstützung für Rafou und für alle anderen Gefangenen, politische oder auch andere. Wir sind nichts, aber wir sind da.
Kollektiv zur Unterstützung der Beschuldigten von Chambéry
Mittwoch, 13. Mai 2009
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