Keine Beweise gegen »Bahn-Terroristen«
Von Ralf Klingsieck, Paris
Von den neun Personen, die Mitte November unter dem Verdacht verhaftet wurden, durch Sabotageanschläge auf Oberleitungen der TGV-Hochgeschwindigkeitszüge eine Serie schwerer Havarien ausgelöst zu haben, sind nur noch zwei im Gefängnis. Denn die Beweislage ist dürftig.
Sieben Verhaftete mussten schon nach wenigen Tagen auf freien Fuß gesetzt werden, weil sich der Verdacht auf »Bildung einer terroristischen Vereinigung« und »lebensgefährliche Eingriffe in den Verkehr« nicht beweisen ließ. Auch für Julien Coupat und seine Freundin Yldune hatte ein Richter vor Weihnachten die Freilassung angeordnet, doch auf Weisung des Innenministeriums hat die Staatsanwaltschaft Einspruch eingelegt und inzwischen vor Gericht die Verlängerung der Untersuchungshaft durchgesetzt. Einziger »Beweis« gegen sie ist ihre Anwesenheit in der Nähe einer TGV-Strecke, an der einer der Anschläge verübte wurde. Das habe eine an ihrem Auto angebrachte Peilboje ergeben, denn das Paar wurde schon seit Monaten von der Polizei beobachtet. Die hat aber weder einen der Anschläge beobachtet noch verhindert.
Die bis heute unbekannten Attentäter hatten bei Nacht Zäune am Bahndamm aufgesägt, um auf die Gleise zu gelangen, wo sie aus Armierungsstahl gebogene Klammern so auf den Oberleitungen platzierten, dass diese sich später im Stromabnehmerbügel der nächsten TGV-Lok verfangen und die Leitung über mehrere hundert Meter heruntergerissen haben. Dadurch kam es zu stundenlangen Verspätungen Dutzender TGV-Züge, durch die Zehntausende Reisende betroffen waren. Vergleichbare Havarien hat es in den vergangenen Monaten aber auch mehrfach aus technischen Gründen aufgrund des schlechten Zustands der Oberleitungen gegeben. Um den dadurch entfachten Unmut in der Öffentlichkeit aufzufangen und abzulenken, ordnete Innenministerin Michèle Alliot-Marie ein massive Aktion an, als sie von der vagen Peilsender-Ortung erfuhr. Starke Sondereinheiten rückten im Dorf Tarnac im Corrèze-Bergmassiv ein und verhafteten vor laufenden Fernsehkameras die Mitglieder einer von Julien Coupat geleiteten »Anarchisten-Kommune«. Die habe in Verbindung zu »gewaltbereiten ultralinken Gruppierungen« in Großbritannien, Belgien, Italien und Deutschland gestanden, die bei Aktionen gegen G8-Gipfel und bei der Blockade von Atommülltransporten aktiv waren, ließ das Innenministerium umgehend die Medien wissen. Armierungsstahl, wie er für die Sabotageakte an den TGV-Strecken verwendet wurde, oder entsprechendes Werkzeug und Bauanleitungen fand die Polizei nicht.
Die Mitglieder der Kommune lebten von den Erträgen aus der Landwirtschaft, betrieben den einzigen Laden des Dorfes und waren bei den Einwohnern so beliebt, dass diese umgehend ein Komitee zu ihrer Unterstützung gebildet haben. Wie die Verteidiger anhand der Akten feststellen konnten, sind die der Justiz vorliegenden »Beweise« gegen Coupat und seine Freunde mehr als dürftig. Das »schwerwiegendste Element« sei da eine angeblich von Coupat verfasste Broschüre mit dem Titel »Der herannahende Aufstand«, in der die Sabotage von Verkehrsanlagen als Mittel des Kampfes gegen den reaktionären Staat gerechtfertigt wird.
Das passt haargenau in das Konzept von Alliot-Marie, die gleich nach ihrer Amtsübernahme als Innenministerin 2007 angeordnet hat, die Beobachtung »ultralinker« Gruppierungen ebenso auf die Prioritätenliste zu setzen wie die radikaler Islamisten, militanter korsischer Nationalisten und in Frankreich untergetauchter Aktivisten der spanischen ETA. Mit Hinweis auf die angebliche Coupat-Broschüre rechtfertigt ein Berater der Ministerin dieses nicht gegen konkrete Taten, sondern gegen politische Meinungen gerichtete Vorgehen der geballten Staatsmacht mit den bezeichnenden Worten: »So hat es 1917 in Russland auch angefangen!«
Doch die intensive Bespitzelung von Julien Coupat und seinen Freunden durch die französische Polizei setzte erst im April 2008 ein, nachdem die Sicherheitsbehörden der USA einen Bericht nach Paris übermittelt hatten, wonach Coupat in New York an einer Demonstration vor einem Rekrutierungsbüro der Armee teilgenommen habe. Über seine Freundin Yldune konnte die US-amerikanische Polizei nichts belastendes berichten. Die besuchte zur fraglichen Zeit in New York ein Museum.
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