Frankreich macht sich auf „Wiedergeburt der gewalttätigen Linken“ gefasst

Entgegen Behauptungen der Übertreibung beharren Regierungsberichte darauf, dass eine neue Generation von Extremisten bald für eine Reihe von Sabotageakten und Bomben sorgen wird.

Die französische Regierung befürchtet dieses Jahr eine Welle des linksextremistischen Terrorismus, in der es möglicherweise zur Sabotage an zentralen Infrastrukturen, Entführungen wichtiger Wirtschaftspersönlichkeiten oder sogar Bombenanschlägen kommen könnte.

Geheimpapiere der französischen Regierung, die dem Observer vorlagen, beschreiben eine "relevante Bedrohung" durch ein "internationales Europäisches Netzwerk… mit einer starken Präsenz in Frankreich" nach der "Radikalisierung einer neuen Generation von Aktivisten" in den vergangenen Jahren. Erfahrene Analytiker und Experten der Regierung zogen Parallelen zur Action Directe, die in den frühen 1980er Jahren 50 Angriffe ausführte, wenn nicht mehr. Andere zitieren das Beispiel der Baader-Meinhof-Bande.

Ein Bericht des französischen Inlandsgeheimdienstes spricht von einer "Wiedergeburt der gewalttätigen extremen Linken" quer durch Europa, die wahrscheinlich durch Effekte der ökonomischen Krise weiter verstärkt werde. Andere Geheimdokumente decken vermutete Verbindungen zu Aktivisten in Italien, Griechenland, Deutschland und Großbritannien auf. "Es ist jetzt drei oder vier Jahre lang gewachsen und die Gewalt kommt echtem Terrorismus immer näher", sagt Eric Dénécé, Direktor des französischen Zentrums für Geheimdienststudien (Cf2R – Centre francais de Recherche sur le Renseignement) und früherer Berater des Verteidigungsministeriums.

Während einige glauben, solche Behauptungen seien Angstmacherei, ist die politische Atmosphäre gespannt und viele Berater des rechten Präsidenten Nicolas Sarkozy fürchten eine Wiederholung der Gewalt der letzten Wochen in Athen, als wütende und entfremdete Jugendliche und ein harter Kern gewalttätiger Linksextremisten sich mehrere Tage lang Straßenschlachten mit der Polizei lieferte, bedeutenden Schaden anrichteten und die Stadt zum Stillstand brachten.

Letzte Woche riefen hunderte Plakate junge Leute, die "gezwungen, für eine Welt zu arbeiten, die uns vergiftet" dazu auf, dem Beispiel ihrer griechischen Kollegen zu folgen: "Der Aufstand geht weiter. Wenn er überall Fuß fasst, kann niemand ihn aufhalten," so das Poster.

Der jüngste Geheimdienstbericht macht die, häufig von jungen Leuten aus der Mittelklasse getragenen, gewalttätigen Demonstrationen gegen die Änderung des Beschäftigungsgesetzes CPE 2006 dafür verantwortlich, eine große Anzahl neuer Aktivisten rekrutiert zu haben.

Eine Reihe von Vorkommnissen bestätigte die Befürchtungen der Polizei im vergangenen Jahr. Im Januar wurden zwei Aktivisten wegen dem Besitz von Materialien verhaftet, die, so wurde vermutet  zum Bau von Bomben verwendet werden sollten. Im November wurden neun Leute nach einer längeren Observation im zentralfranzösischen Dorf Tarnac verhaftet, wo sie eine Kommune aufgebaut hatten. Zwei der mutmaßlichen Anführer, Julien Coupat, 34, und seine Partnerin Yildune Lévy, 25, befinden sich noch immer im Gefängnis. Ihnen wird vorgeworfen, Bahnlinien des Hochgeschwindigkeitszuges TGV sabotiert haben und sich "in terroristischer Absicht mit anderen Übeltätern verbündet zu haben".

Gilles Gray, Direktor der Abteilung Ökonomischer Schutz im französischen Inlandsgeheimdienst sprach neulich von "einer Philosophie, die sich in Europa verbreitete". Die Festnahmen in Tarnac waren, so sagt er, "eine klare Botschaft… gerichtet an diejenigen, die vielleicht darüber nachdenken ähnliche Dinge zu tun". "Wir hoffen, dass diese Angelegenheit diese Art gewalttätiger Aktionen für eine Weile beendet hat und eine Rückkehr der Action Directe [vermeiden wird]."

Die Ermittler glauben, dass die Festnahmen in Tarnac "Vergeltungsmaßnahmen" provozierten: In Athen wurde das Büro der französischen Nachrichtenagentur Agence France-Presse mit behelfsmäßigen Brandsätzen angegriffen, in Hamburg das französische Konsulat mit Farbe beschmiert.

Ein Bekennerschreiben zur Sabotage der TGV Strecke wurde laut Polizei von Hannover aus an eine deutsche Zeitung geschickt. Die Signatur von "denen es reicht… in Erinnerung an Sébastien" ist vermutlich eine Referenz an Sébastien Briat, einen jungen Anti-Atom Aktivisten, der genau vier Jahre vor der aktuellen Flut von Sabotage in Ostfrankreich von einem Atommülltransport zerquetscht wurde. Coupat und Lévy hatten an Demonstrationen und Aktionen in Deutschland, Großbritannien und den USA teilgenommen.

Coupat wird ebenfalls von den Ermittlern beschuldigt anonym das Buch "Der kommende Aufstand" geschrieben zu haben, das 2007 von einem wenig bekannten Verlag in Paris veröffentlicht wurde. Das Buch, das auf Englisch übersetzt auf anarchistischen Webseiten in Großbritannien und den USA zu finden ist, wurde im Besitz dreier junger Aktivisten gefunden, die nach dem Zünden einer Bombe auf einem Feld festgenommen wurden. Es beinhaltet Anleitungen zur Sabotage von Bahnstrecken und andere Mittel zum "Zerstören der Macht der Polizei, Erlangen lokaler politischer Macht durch die Leute, und Blockieren der Ökonomie." In einer Stellungnahme des Verlags heißt es, Autor sei ein "Komitee aus der subversiven Tendenz".

Aber einige beschuldigen Frankreichs rechte Regierung auch, die linke Bedrohung sowohl zu übertreiben als auch für sich auszuschlachten. "Sie machen aus meinem Sohn den Sündenbock einer Generation, die begonnen hat, eigenständig über das Unrecht des Kapitalismus nachzudenken und gegen die Regierung zu demonstrieren", sagt Gérard Coupat, Vater des mutmaßlichen Anführers der Tarnac Gruppe.

"Die Regierung hält meinen Sohn im Gefängnis, weil ein Mann aus der Linken, der den Mut hat zu demonstrieren das letzte ist, was sie haben wollen – jetzt, da die ökonomische Krise immer schlimmer wird. Nicht vergleichbares ist seit dem Krieg in Frankreich passiert. Es ist sehr ernst."

Der Autor und Forscher Christophe Bourseiller sagte dem Observer, dass die Bedrohung übertrieben wird. "Ja, es gibt wieder ein gewisses neues Ausmaß der Agitation, aber es gibt einen großen Unterschied zwischen der unfreiwilligen Verlangsamung einiger Züge ohne irgendjemand zu verletzen, und so etwas wie den Bombenanschlägen von Madrid. Das Innenministerium hat es mit Hilfe einer riesigen Medienoperation so aussehen lassen, als hätten die Verhaftungen von Tarnac einer ernstzunehmenden Kampagne der Gewalt Einhalt geboten."

Mit Sicherheit gibt es im Ministerium am Place Beauveau eine weitverbreitete Angst vor gewaltsamen Protesten in den nächsten Monaten. Eine kraftvolle und wachsende Schülerbewegung zwang [die Regierung] zum taktischen Rückzug ihrer weitreichenden Reformpläne, nachdem Demonstrationen in Lyon zu Zusammenstößen mit der Polizei, Massenfestnahmen und brennenden Autos geführt hatten.

Gewerkschafter haben für die kommenden Monate eine Serie von massenhaften Arbeitsniederlegungen angekündigt. In einer Bevölkerung, die ohnehin verbittert ist über stagnierende Löhne bei steigenden Preisen und das strukturell hohen Niveau von Erwerbslosigkeit, werden die möglicherweise durch die Wirtschaftskrise hervorgerufenen Entlassungen und Lohnkürzungen die Wut anheizen.

"Ob die Tarnac Gruppe schuldig ist oder nicht, es gibt andere Gruppen in Frankreich, in Italien, in Deutschland, die den Glauben an eine politische Linke in Auflösung verloren haben, die gewalttätigen Aktionen zuneigen und sich in einer Phase der Semi-Klandestinität befinden," sagte Alain Bauer, Kriminalist an der Sorbonne dem Observer. "Bei der Action Directe und den Roten Brigaden gab es zuerst eine intellektuelle Phase, gefolgt von einer Radikalisierung und dann dem Übergang zur physischen Aktion. Bücher wie "Der kommende Aufstand" erinnern stark an diese erste Phase."

Andere Ähnlichkeiten sind die ins Auge gefassten Taktiken und das gebildete Mittelklasse-Profil der meisten Aktivisten.

 

[Übersetzung eines Artikels aus dem
Guardian vom 4. Januar 09]