SZ: Das Lehrstück von Tarnac

Wie der Antiterrorkampf in Frankreich zur Farce wird

Im Morgengrauen des 11. November 2008 stürmten 150 französische Polizisten einen Bauernhof im Weiler Tarnac (Département Corrèze) und nahmen neun Personen im Alter zwischen 25 und 35 Jahren fest. Laut Innenministerium handelte es sich um eine Bande „anarcho-autonomer“ Ultralinker, die verdächtigt wurden, die französische Bahn sabotiert zu haben. In den Wochen zuvor waren TGVs der Linien Paris-Lille und Paris-Strasbourg mit sogenannten Hakenkrallen blockiert worden. Bei der Durchsuchung des Bauernhofs beschlagnahmten die Antiterror-Spezialisten „Material zum Klettern“ sowie „Dokumente über den Streckenverlauf von Zügen“, zu Deutsch: eine Leiter und einen Fahrplan. Für eine dauerhafte Inhaftierung der Festgenommenen reichte der Fund nicht. Acht der Verdächtigen wurden bald wieder auf freien Fuß gesetzt. Nur Julien Coupat, in dem die Polizei den „Doktrinär“ und „Chef“ der Bande vermutet, befindet sich wegen des Verdachts auf „Bildung einer kriminellen Vereinigung mit terroristischen Zielen“ noch immer in Untersuchungshaft.

Die dünne Beweislage und der Vorwurf des Terrorismus führten zu Protesten von Juristen, Journalisten, ja sogar von Polizisten. Giorgio Agamben, Jean-Luc Nancy und andere Philosophen schrieben in einem offenen Brief, die Angeklagten seien nur deshalb verhaftet worden, weil sie politisch aktiv waren: „Sie haben an Demonstrationen teilgenommen, sie denken nach, lesen Bücher, leben gemeinsam in einem Dorf. Sie wären untergetaucht“, heißt es. In Wirklichkeit haben sie einen Ökoladen öffentlich betrieben, und in der Gegend von Tarnac kennt sie jeder. Zuletzt wird noch die Abwesenheit eines Beweises zum Beweis: Die Weigerung der Angeklagten, sich in der Haft gegenseitig zu denunzieren, wurde als Indiz dafür aufgefasst, dass es sich um Terroristen“ handle. Wie lange wollen wir es noch hinnehmen, dass der sogenannte Antiterrorismus jede und jeden jederzeit anzuklagen erlaubt?“

Ins Visier der Polizei war die Gruppe um Coupat aufgrund eines einhundertzwanzigseitigen, post-situationistischen Pamphlets geraten, das den provokanten Titel „L“insurrection qui vient“ (Der kommende Aufstand) trägt und als dessen Autor ein mysteriöses „comité invisible“ (unsichtbares Komitee) figuriert. In dem elegant formulierten Essay war problemlos die Handschrift Julien Coupats und seiner Freunde wiederzuerkennen, die bereits 1999 mit der Pariser Theoriezeitschrift Tiqqun auf sich aufmerksam gemacht hatten. Giorgio Agamben bezeichnete die Revue als das „Intelligenteste“, was in Paris in den letzten Jahren geschrieben worden war. Ähnlich wie in Tiqqun geht es auch in den poetisch-politischen Überlegungen zum „kommenden Aufstand“ um die Denunziation einer trostlos unwirklichen Gegenwart, und um die Flexibilisierungsanforderungen an die „Generation Praktikum“, die sich aussichtslos und schlecht bezahlt vom einen ins andere Projekt forthangeln muss, ohne dass sich je eine bessere Zukunft blicken ließe. Morgen fällt aus. Was die Welt zu bieten hat, heißt Arbeitsamt, Prekariat, Dauerkrise.

Alles blockieren!

Um dem Desaster abzuhelfen, predigt das „unsichtbare Komitee“ zwar keinen bewaffneten Kampf, immerhin aber die aktive Beschleunigung der sozialen Implosion. Zum einen schlägt es den Rückzug in Alternativprojekte à la Tarnac vor, zum anderen die demonstrative Unterbrechung der Mobilitätskanäle des rasenden Fortschritts. Was die Staatsanwaltschaft dazu veranlasste, die Gruppe um Julien Coupat als Terroristen einzuschätzen, waren Sätze wie die folgenden: „Die Wirtschaft blockieren. Die Anti-CPE-Bewegung hat nicht gezögert, Bahnhöfe, Autobahnen, Fabriken, Supermärkte zu blockieren. Alles blockieren: Das ist der erste Reflex all derer, die gegen die herrschenden Verhältnisse aufstehen.“

Über Sinn und Unsinn solcher Blockade-Strategien kann man streiten. Im Fall der französischen Massenbewegung gegen den CPE (Erstanstellungsvertrag) waren sie immerhin erfolgreich. Schwer tut man sich allerdings, in ihnen jenen blutrünstigen Terror zu wittern, den Innenministerium, Staatsanwaltschaft und Polizei darin am Werk sahen und auf den sie mit martialischen Verhaftungs- und Anklageaktionen reagierten. Die Gruppe von Tarnac von vornherein gleichzusetzen mit Bombenlegern, Selbstmordattentätern oder Flugzeugentführern und Julien Coupat gegen die Entscheidung des Untersuchungsrichters immer weiter als „Terroristen“ gefangen zu halten, erscheint ebenso absurd wie politisch unklug. Erstens bestätigt man dadurch nur jene düsteren Visionen, die im Ausnahmezustand die Regel der bürgerlichen Demokratien selbst erblicken, zweitens macht man Coupat dadurch zu genau jener charismatischen Figur des anarcho-autonomen Widerstands, die man verhindern wollte, und drittens verwechselt man auf katastrophale Weise kritische Worte und Gedanken mit kriminellen Taten. Politische Freiheit endet nicht dort, wo radikale Kritik an den schlechten Verhältnissen geübt wird, sie beginnt dort erst. Demokratien sind keine Nachtwächterstaaten.
Dass die Innenministerin der französischen Republik einen jungen Philosophen für seine revolutionären Schriften kriminalisiert, ist jedenfalls eine historische Neuheit. Zuversichtlich stimmt sie nicht. CLEMENS PORNSCHLEGEL

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