An unsere Richter….

(Brief  von acht der neun Angeklagten im „Fall Tarnac“)

Vier Monate – und ein Ende der medial-juristischen Inszenierung des sogenannten „Fall Tarnac“ ist nicht in Sicht. Julien, soll er auf den Weihnachtsmann warten? Auf Neujahr? Auf Freitag, den Dreizehnten? Wird er dann mehr Glück haben? Nein, nein, man behält ihn noch etwas im Knast, eingesperrt in seiner Rolle als Anführer einer unsichtbaren Zelle. Da es offensichtlich im Interesse von einigen Personen liegt, diese absurde Maskerade selbst jenseits des Grotesken aufrecht zu erhalten, müssen wir wohl die Rolle der „Tarnac9“, in die man uns hineingepresst hat, noch einmal einnehmen, um kollektiv einiges klar zu stellen. Alors voilà…

Primo. Während die Journalisten sogar unsere Papierkörbe durchwühlten, haben uns die Bullen bis in den Arsch geschaut. Das ist unangenehm genug. Seit Monaten öffnet ihr unsere Post, hört ihr unsere Telefongespräche ab, verfolgt ihr unsere Freunde, filmt ihr unsere Häuser. Diese voyeuristischen Techniken scheinen euch in vielerlei Hinsicht zu befriedigen.

Wir, die Neun, wir erleiden sie, wie so viele andere auch. Atomisiert durch eure Prozeduren, neun mal einer, während ihr uns als Verwaltungs- und Polizeiapparat, als Logik einer ganzen Welt entgegen tritt. Die Karten, sie sind gezinkt, und der Scheiterhaufen steht schon bereit. Erwartet nicht, dass wir uns an eure Spielregeln halten.

Deuzio. Selbstverständlich braucht ihr „Individuen“, zu einer „Zelle“ konstituiert, die wiederum Teil einer „Bewegung“ einer Fraktion des politischen Parketts ist. Ihr braucht das, denn es ist euer einziger und letzter Zugriff auf einen immer grösser werdenden Teil der Welt, der nicht mehr in die Gesellschaft, die ihr zu verteidigen vorgibt, integriert werden kann. Ihr habt Recht, es geschieht etwas in Frankreich, doch ganz bestimmt ist es nicht die Renaissance einer „Ultralinken“. Wir sind hierbei nur ein paar Figuren, nur die vulgäre Kristallisation eines Konfliktes, der diese Epoche durchzieht.  Was hier sichtbar wird, ist nur die medial-polizeiliche Spitze einer gnadenlosen Konfrontation, die von einer Ordnung geführt wird, die alles bekämpft, was beabsichtigt, sie überleben zu können.

Es ist offensichtlich, dass ihr angesichts dessen, was in Guadeloupe, in Martinique, in den Banlieues und an den Universitäten, bei den Weinbauern, den Fischern, den Eisenbahnern und den Sans-Papiers geschieht,  viel mehr Richter als Professoren bräuchtet, um all dies zu verfolgen. Ihr kapiert gar nichts. Und denkt nur nicht, dass die Schnüffler des DCRI (französischer Inlandgeheimdienst) euch dafür eine Erklärung werden liefern können.

Tertio. Wir stellen fest, dass es in unseren Freundschaften und „kriminellen Vereinigungen“ mehr Freude gibt als in euren Büros und Tribunalen.

Quarto. Für euch mag es selbstverständlich erscheinen, das die Ernsthaftigkeit eures Berufs es verlangt, uns selbst über unsere politischen Ansichten und über unsere Freundschaften auszufragen. Wir haben jedoch nicht im Geringsten das Gefühl, euch dazu irgend etwas sagen zu müssen. Kein Leben wird jemals völlig transparent sein für die Augen des Staates und der Gerichtsbarkeit. Und es sieht so aus, als werde eure Sicht gerade dort, wo ihr klar sehen wollt, getrübt. Denn es werden immer mehr, die, um eurem Blick zu entkommen, ohne Handy an die Demo gehen, die Texte, die sie schreiben, verschlüsseln und allfällige Beschatter abzuschütteln wissen. Tja, Pech für euch.

Quinto. Seit Beginn dieses „Falls“ scheint ihr der Aussage eines lieber anonym bleibenden Mythomanen viel Gewicht einräumen zu wollen. Ihr klammert – wie mutig von euch! – eure ganze Hoffnung an dieses Lügengespinst, und an jene Praktik, mit der sich Frankreich schon vor einigen Jahrzehnten alle Ehre gemacht hat: die Denunziation. Es wäre schon fast rührend, wenn darauf nicht die Anklage gegen Julien beruhen würde, und somit der Fortbestand seiner Haft. Wenn diese Art von „Zeugenaussagen“ nicht willkürliche Verhaftungen rechtfertigen würde – beispielsweise, als Munition per Post an Minister und Parlamentarier verschickt wurde und als im Departement Hérault und im Vorort Villiers-le-Bel auf die Polizei geschossen wurde.

Fakt ist also, dass die Freiheit, die uns bleibt, äusserst beschränkt ist, und dass der einzige Bereich, wo wir uns euerem Einfluss entziehen können, die Verhöre sind, denen ihr uns regelmässig unterzieht. Dass Juliens Freilassung schon vier Mal verweigert wurde. Dass er unser Freund ist. Dass er nichts mehr ist, als wir auch sind. Vom heutigen Tag an werden wir daher der heroische Tradition eines Barlebys folgen: „Wir möchten lieber nicht“. Kurz, wir werden euch überhaupt nichts mehr sagen, solange ihr ihn nicht freilässt, solange ihr die Anklage auf „Anführerschaft“ gegen ihn nicht fallen lässt und die Terrorismus-Anklage gegen uns alle. Zusammengefasst: bis ihr die gerichtliche Verfolgung einstellt.

Für alle, die, wo immer sie sind, kämpfen statt resignieren. Für alle, die nicht an Verbitterung zu Grunde gehen, sondern Freude zu einer offensiven Frage machen. Für unsere Freunde, unsere Kinder, unsere Brüder und Schwestern, für die Unterstützungskomitees. Weder Angst, noch Mitleid. Keine Helden, keine Märtyrer. Gerade weil dieser Fall gar nie ein juristischer war, müssen wir den Konflikt politisch austragen. Was die verschärften Attacken einer zunehmend absurden Macht bei uns hervorruft, ist nichts anderes, als die Generalisierung von Selbstverteidigungstaktiken. Überall dort, wo es nötig wird.

Nicht neun Menschen sind zu retten, sondern eine Ordnung ist zu Fall zu bringen.

Aria, Benjamin, Bertrand, Elsa, Gabrielle, Manon, Matthieu, Yldune

Der französische Text wurde auch in der Tageszeitung Le Monde vom 16. 3. 09 publiziert.