Da ist ein Mann in einem Büro, wie so viele andere Männer in so vielen anderen Büros, denen er ähnelt, ohne irgend jemandem zu ähneln. Dieser hier verfügt über eine besondere Macht, sicherlich aus dem Grund, dass sein Büro im letzten Stock irgendeines Turms eines Justizpalasts liegt.
Angeblich ermittelt er. Gegen wen? Worüber? Er ermittelt. Er inhaftiert. Er verhört. Er erlässt Verordnungen, blasse Verordnungen, in denen einige Gesetzparagraphen, eine Hand voll vereinbarte Formulierungen und vage Überlegungen zu undurchschaubaren richterlichen Aufsichtsmaßnahmen führen. Benjamin, sicherlich zu beliebt als Lebensmittelhändler in Tarnac, wird bei seiner Mutter in der Normandie, wo er nie gewohnt hat, unter Hausarrest gestellt, mit 30. Manon und ich, die in Fleury [Frauengefängnis im Pariser Vorort, NdÜ] alles miteinander geteilt haben, dürfen uns, jetzt da wir "frei" sind, nicht mehr sehen. Julien darf sich in den Pariser Vorstädten bewegen, aber Paris nicht durchqueren, sicherlich für den Fall, dass ihm in den Sinn käme, das Rathaus zu stürmen.
Ein Freund, der ihn im Sprechzimmer des Santé-Gefängnisses besuchte, muß sich jetzt hüten, ihm zu begegnen, sonst wird Julien erneut inhaftiert. Der Mann im Büro baut ein Labyrinth unsichtbarer Wände, ein Labyrinth künstlicher Unmöglichkeiten, in dem wir uns und den Verstand verlieren sollen. Es gibt eine Ordnung in diesen verzwickten Sinnlosigkeiten, eine Politik der Desorientierung, die sich hinter den neutralen Akzenten des Gerichtsverfahrens versteckt.
Wir werden unter dem Vorwand befreit, dass es keine "betrügerische Verständigungsgefahr" gibt, und dann verbietet man uns, uns untereinander zu sehen und wir werden hierhin und dorthin exiliert, weit weg von Tarnac. Eine Hochzeit wird erlaubt und gleichzeitig erwähnt man bewußt den Ort und das Datum. Dies ist sicherlich Schikane (1), aber nicht nur.
Durch ihre Zusammenhanglosigkeiten verrät eine Ordnung ihre Logik. Das Ziel dieses Verfahrens ist nicht, uns durch einen Prozess zu führen, sondern, hier und jetzt, und solange es nötig ist, einige Leben unter Kontrolle zu halten. Es geht darum, jederzeit all jene maßlosen Mittel des Antiterrorismus gegen uns verwenden zu können, um uns zu zerstören, sowohl als Einzelpersonen, als auch alle gemeinsam. Indem wir unter Hausarrest gestellt werden, indem der eine zum Medienstar gemacht wird, der andere zu Wort gebracht wird, indem man versucht, jenes gemeinsame Leben zu zersplitten, aus dem Stärke erwächst.
Gerichtliche Tatsachen werden vom laufenden Verfahren nur nebenbei erzeugt, das Verfahren erlaubt zunächst einmal Verbindungen und Freundschaften zu zerbrechen. Nicht die Körper zu trennen, zu zertrampeln und zu foltern, sondern das, was diese Körper zusammenhält: die Gesamtbeziehungen, die uns aufbauen, Beziehungen zu geliebten Menschen, zu einer Region, zu einer Art zu leben, zu agieren, zu singen. Es ist ein Massaker in der Ordnung des Unspürbaren. Das, was die Justiz angreift, wird nicht in den Fernsehnachrichten sein: der Trennungsschmerz erzeugt Geschrei, keine Bilder. "Die Gruppe desorganisiert" zu haben, wie der Richter sagt, oder "eine anarcho-autonome Untergrundstruktur gesprengt" zu haben, wie die Antiterror-Abteilung sagt – so beglückwünschen sich gegenseitig die traurigen Beamten der Repression, graue Penelopes, die tagsüber die Dinge auflösen, die ihnen nachts als Albträume erscheinen.
Verklagt als Terroristen wegen Besitzes selbstgemachter Rauchbomben am Anfang einer Demonstration, zogen Ivan und Bruno einer Existenz unter richterlicher Aufsicht den Ausbruch vor. Uns in den Untergrund zu treiben, nur damit wir unsere Geliebten umarmen können, wäre kein zufälliger Effekt des laufendem Manövers.
Die sogenannte "Tarnac-Affäre" und die heutige Jagd auf die Autonomen verdienen keine weitere Aufmerksamkeit, es sei denn als man betrachtet sie als Sicht-Maschine. Normalerweise entrüstet man sich über das, was man nicht sehen will. Aber es gibt hier keinen Grund, sich darüber zu entrüsten, ebensowenig wie in anderen Fällen. Denn es ist die Logik der Welt, die sich da offenbart. Der skrupulöse Trennungszustand, der heutzutage herrscht – in dem der Nachbar seinen Nachbarn ignoriert, der Kollege seinem Kollegen misstraut, jeder damit beschäftigt ist, den anderen zu betrügen und sich selbst als Sieger zu sehen, in dem die Herkunft unseres Essens uns ebenso entgeht, wie die Funktion der Falschheiten, mit denen die Medien unsere Tagesgespräche füttern – dieser Trennungszustand ist unter diesem Blickwinkel nicht das Ergebnis obskurer Dekadenz, sondern das Objekt permanenter Gestaltung.
Dieser Gesichtspunkt erklärt auch die wutschnaubende polizeiliche Besetzung, mit der die Macht die Volksviertel überflutet. "Gebietseinheiten" werden geschickt, um die Vororte zu kontrollieren. Seit dem 11. November 2008 ergehen sich die Gendarme in unaufhörlichen Kontrollen auf der Millevaches-Hochebene [wo Tarnac liegt, NdÜ]. Es wird erwartet, dass die Bevölkerung mit der Zeit diese "jungen Leute" zurückweisen wird, als ob sie der Grund für die Unannehmlichkeiten wären. Das Staatsapparat mit all seinen Organen offenbart sich langsam als eine monströse Formation des Ressentiments. Eines Ressentiments, manchmal brutal, manchmal hochentwickelt, gegen die Vitalität des Volks, die den Staat überall umfasst, ihm entgeht und die er die ganze Zeit als eine klare Bedrohung sieht, während sie ihn nur als eine absurde und absurdböse Hinderung sieht.
Aber was kann sie eigentlich, diese Formation? Sich "kriminelle Vereinigungen" ausdenken, "Anti-Banden-Gesetze" verabschieden, kollektive Beschuldigungen auf ein Recht pfropfen, das angeblich nur individuelle Verantwortlichkeiten kennt. Was kann sie? Nichts, oder so wenig. Am Rande beschädigen, ein paar Leute neutralisieren, ein paar andere erschrecken. Diese Trennungspolitik wendet sich nun plötzlich gegen sich selbst: Für einen Neutralisierten politisieren sich hundert. Neue Verknüpfungen entstehen da, wo man sie am wenigsten erwartet hätte. Im Gefängnis, in den Unterstützungskomittees treffen sich Leute, die sich nie hätten treffen sollen; etwas entsteht dort, wo für immer Ohnmacht und Depression herrschen sollten. Es ist ein verwirrendes Spektakel, zu beobachten, wie die Strafmechanik vor dem unendlichen Widerstand der Liebe und der Freundschaft kaputt geht. Die Freude nicht zu kennen, Kameraden zu haben, ist ein grundlegendes Gebrechen der Macht. Wie könnte ein Staatsmann verstehen, dass für mich nichts weniger begehrenswert ist, als die Ehefrau eines Chefs zu sein?
Angesichts des zerschlagenen Zustandes der Gegenwart, angesichts der staatlichen Politik, kann ich nur an eine Politik in den Vierteln, in den Fabriken, in den Schulen, in den Krankenhäusern oder auf dem Land denken, die wieder bei den Verbindungen ansetzt, sie verdichtet, sie bevölkert und uns aus dem geschlossenen Kreis herausführt, in dem unsere Leben verbrennen. Einige werden sich am Brunnen der Unschuldigen in Paris am Sonntag 21.06. um 15 Uhr begegnen. Alle Gelegenheiten sind gut, um die Straße zurückzugewinnen, selbst die Fête de la Musique.
Yldune Lévy, Studentin, ist Angeklagte in der "Tarnac-Affäre".
(1) [Lévy benutzt hier das Wort "fragnoler", NdÜ]. Es fehlt jedoch im Französischen ein Verb für den Gefallen, den ein Mächtiger daran findet, durch tausend winzige Manöver den anderen das Leben unmöglich zu machen. Um diese Lücke zu füllen, schlage ich vor, das Verb "fragnoler" in die Auflage 2011 des Wörterbuchs "Petit Robert" aufzunehmen, von dem sich wahrscheinlich das Substantiv "fragnolage", das Adjektiv "fragnolesque" und der Spruch "T’es fragno!" ableiten. Deren Gebrauch ist bestätigt und verbreitet sich immer weiter.
im Original: http://www.soutien11novembre.org
[…] Wie im Verfahren gegen die militante gruppe in Deutschland (Andrej H., § 129a und die verdächtigen Begriffe), aber auch z.B. gegen die FARC in Kolumbien, benutzen französische Innenbehörden einen Wissenschaftler als Klammer für weitreichende Ermittlungsverfahren gegen eine "terroristische Vereinigung". Yldune Lévy, ebenfalls im November inhaftiert, wurde als "Freundin" von Julien Coupat inszeniert – immerhin reichte dieser Status den Behörden, um sie bis Ende Januar festzuhalten. Wie könnte ein Staatsmann verstehen, dass für mich nichts weniger begehrenswert ist, als die Ehefrau eines Chefs zu sein? Yldune Lévy […]