Wie in Deutschland wurden auch in Frankreich Oberleitungen von Bahnlinien mit „Hakenkrallen“ präpariert. Ermittelt wird wegen Terrorismus
In den frühen Morgenstunden des 11. November letzten Jahres hatten Spezialeinheiten der französischen Polizei landesweit mehrere Objekte durchsucht und neun Personen festgenommen. Den Betroffenen dieser „Operation Taiga“ wird vorgeworfen, Mitglieder einer terroristischen Vereinigung zu sein. Einige von ihnen sollen wenige Tage zuvor mit sogenannten „Hakenkrallen“ an Oberleitungen von Bahnlinien versucht haben, Züge zum Halten zu zwingen.
Im Dörfchen Tarnac im Südwesten Frankreichs, wo die Verhafteten zusammenleben, hatte die maskierte Polizei Fotografen und ein Fernsehteam zur Razzia mitgebracht. Die Reporter präsentierten den geneigten Zuschauern die vermeintlichen Verantwortlichen für stundenlange Zugverspätungen der Hochgeschwindigkeitszüge TGV im Frühstücksfernsehen. Trotz fehlender Beweise und bestenfalls dürftigen Indizien dauerte es beinahe sieben Monate, bis mit Julien Coupat der letzte der Beschuldigten vorläufig aus der Haft entlassen wurde. Die lange Untersuchungshaft des ehemaligen Philosophiestudenten und Mitbegründers der Zeitung „Tiqqun“ wurde von den Behörden mit seiner Rolle als „Anführer“ begründet. Für seine Freilassung hatten sich zuvor Intellektuelle, unter ihnen Giorgio Agamben (Terrorismus oder Tragikomödie?), mit Erklärungen und einer Petition eingesetzt:
Aktivisten gegen die (in jedem Fall fragwürdige) Art und Weise, wie mit sozialen und ökonomischen Problemen heute umgegangen wird, werden heute ipso facto als potenzielle Terroristen angesehen, sogar wenn keine einzige Handlung diese Anklage rechtfertigen kann.
Giorgio Agamben
Wie im Verfahren gegen die militante gruppe in Deutschland (Andrej H., § 129a und die verdächtigen Begriffe), aber auch z.B. gegen die FARC in Kolumbien, benutzen französische Innenbehörden einen Wissenschaftler als Klammer für weitreichende Ermittlungsverfahren gegen eine „terroristische Vereinigung“. Yldune Lévy, ebenfalls im November inhaftiert, wurde als „Freundin“ von Julien Coupat inszeniert – immerhin reichte dieser Status den Behörden, um sie bis Ende Januar festzuhalten.
Wie könnte ein Staatsmann verstehen, dass für mich nichts weniger begehrenswert ist, als die Ehefrau eines Chefs zu sein? Yldune Lévy
In den Medienrummel um die „Tarnac9“ passt auch Schweizerin Aria Thomas, die sechs Jahre lang in einer bekannten Fernsehserie gespielt hatte, bevor sie in Tarnac eingezogen war und ebenfalls im Gefängnis landete. Dass sich jüngst ein Boulevardblatt aufdie Lauer legte, um Fotos der Hochzeit von Yldune Lévy und Julien Coupat zu schießen, markiert den vorerst letzten Höhepunkt des öffentlichen Interesses. Die beiden können nun Aufenthaltsverbote und Kontaktsperren umgehen, zu denen sie mit der Haftverschonung gezwungen werden.
Zwar hat die monatelange Berichterstattung und Personifizierung den Beschuldigten erhebliche Sympathien gebracht und massiven Druck auf Polizei und Innenministerium ausgeübt. Dabei gerät aus dem Blick, dass es bereits seit Anfang letzten Jahres eine massive Verfolgung anderer linker Aktivisten in Frankreich gibt. Nach der Reorganisierung der Behörden des Innenministeriums, der Polizei und der Inlandsgeheimdienste hatte die frühere Innenministerin Alliot-Marie zum Sturm auf eine „Ultragauche“ geblasen, zu der auch die „Tarnac9“ gerechnet werden. Aktivisten wurden verhaftet weil sie – wie bei Demonstrationen in Frankreich üblich – Rauchpulver mitführten und in ihrem Auto Nägel gefunden wurden; sie werden beschuldigt aus dem Material „Nagelbomben“ bauen zu wollen.
Um die Ermittlungsverfahren zusammenzuführen, wird eine „mouvance anarcho autonome“ konstruiert, die zuletzt die Auseinandersetzungen mit der Polizei beim NATO-Gipfel in Strasbourg verantworten soll. Sie sei international vernetzt, da sie Freundschaften in anderen Ländern unterhalte, darunter Griechenland, Deutschland, Spanien und Italien. Aus öffentlichgewordenen Ermittlungsakten ist zu entnehmen, dass Beschuldigten auch ihre politischen Aktivitäten bei G8-Gipfeln oder die Teilnahme an einer Demonstration gegen den „Anti-Islamisierungskongress“ in Köln als verdächtig ausgelegt werden.
Im Windschatten der Kampagne gegen die „mouvance anarcho autonome“ hatte das Parlament kürzlich ein „Anti-Banden-Gesetz“ verabschiedet (Überwachung gewaltbereiter Jugendlicher über Blogs und SMS), nach den militanten Protesten beim NATO-Gipfel folgte zügig ein „Kapuzenverbot“.
Julien Coupat wird zur Last gelegt, das Buch Der kommende Aufstand (herausgegeben von einem „Unsichtbaren Komitee“) mitverfasst zu haben, in dem unter anderem zur Sabotage aufgerufen wird – in Frankreich immerhin ein seit Jahrhunderten übliches und immer noch propagiertes Mittel im Arbeitskampf. „Der kommende Aufstand“ ist mittlerweile auf englisch erschienen und wird sogar von Glenn Beck in „Foxnews“ zur Lektüre empfohlen.
In der Zeitung Le monde hatte Julien Coupat allerdings erklärt, zwar nicht dessen Autor, aber begeisterter Leser zu sein. Immerhin hatte die ausführliche, erstmals seit der Verhaftung öffentlich vorgetragene Stellungnahme in Le monde die Staatsanwaltschaft und Richter derart unter Druck gesetzt, seinem vierten Haftprüfungsantrag zuzustimmen und ihn wenige Tage später zu entlassen.
„Made in Germany“
In Frankreich ist nie eine Erklärung für die Sabotage der Oberleitungen eingegangen. Stattdessen hatten Zeitungen in Deutschland einenTag vor den Verhaftungen der „Tarnac9“ entsprechende Schreiben erhalten, darunter auch die taz Berlin – die es allerdings nicht für wichtig genug hielt, diese zu veröffentlichen. Der Brief, der mit „Weil wir es satt haben“ beginnt, wurde in Hannover aufgegeben. Die Verfasser übernehmen darin die Verantwortung für Anschläge auf Strecken in Frankreich und Deutschland im November 2008 anlässlich des „Castor“-Transports mit Atommüll von La Hague nach Gorleben: Paris-Strasbourg, Paris-Lille, Paris-Rhone-Alpes, Paris-Bourgogne, Ludwighafen-Mainz, Kassel-Ruhrgebiet, Ruhrgebiet-Hannover, Bremen-Hamburg und mehrere Strecken im Raum Berlin. Der Text endet mit den Worten „… in Erinnerung an Sébastian“. Sébastian Briat war 2004 in Frankreich von einem Zug überrollt worden, als er sich aus Protest gegen einen Atomtransport an die Gleise kettete. Der Zugführer hatte die Signale zum Anhalten nicht beachtet (Die Anweisung „Vorsichtige Fahrt“ wurde nicht gegeben).
Es ist wahr, dass die Sabotage der Eisenbahnlinien damit viel von ihrer Aura des Mysteriösen verliert: es handelte sich einfach darum, gegen den Transport von ultra-radioaktivem Atommüll nach Deutschland auf dem Schienenweg zu protestieren und nebenbei den großen Nepp der „Krise“ anzuprangern. Das Kommuniqué schließt damit ab, sehr im Stil der SNCF, wir bedanken uns bei den Fahrgästen der betreffenden Züge für ihr Verständnis. Julien Coupat
Die Sabotage von Oberleitungen gehört in Deutschland seit 1996 zum Repertoire linker Aktivisten, um etwa gegen die Rolle der Deutschen Bahn bei „Castor“-Transporten zu protestieren. Obwohl bei den Aktionen keine Menschen verletzt werden können, ermitteln Verfolgungsbehörden neben „gefährlichem Eingriff in den Bahnverkehr“ auch nach dem Terrorismusparagraphen §129a, der ihnen beträchtlichen Spielraum zur Überwachung potentieller Verdächtiger gewährt. Bundes- und Landeskriminalämter nutzen die Kompetenzen §129a gemeinhin auch zur Durchleuchtung einer gesamten Szene. Viele Betroffene werden zunächst als Zeugen vorgeladen, damit haben sie keinen Anspruch auf Aussageverweigerung.
Der 1976 eingeführte §129a gilt als „Gesinnungsparagraph“ und „juristische Mehrzweckwaffe“. In den allermeisten Fällen werden die Ermittlungen Jahre später eingestellt – nicht ohne umfangreiches Material angehäuft zu haben, das einen tiefen Einblick in die Strukturen gibt. Trotz Einstellungaller Verfahren auch wegen „Hakenkrallen“ werden Verdächtige, „Betroffene“ (z.B. Mitbewohner) oder Zeugen weiterhin in Dateien des BKA gespeichert.
Die französische Polizei vermutet, dass die in Frankreich verwendeten Hakenkrallen Made in Germany seien, und ersuchte beim deutschen BKA, angeblich aber auch in Italien um Unterstützung der Ermittlungen. Drei deutsche Aktivisten, gegen die bereits früher nach §129a in der BRD ermittelt wurde, erhielten eine richterliche Zeugenvorladung. Im Rahmen eines Rechtshilfeersuchens des „Tribunal de Grande Instance de Paris“ sollten die Betroffenen in Hamburg und Berlin im Beisein von sechs französischen Untersuchungsrichtern verhört werden. Offensichtlich werden die drei eher als Verdächtige denn als Zeugen geführt: Das LKA Berlin hatte kurz vor der Vernehmung erfolglos versucht, bei einer der Vorgeladenen eine Hausdurchsuchung durchzuführen. Alle drei verweigerten demnach die Aussage.
Wie die früheren Verfahren nach §129a wegen Sabotage von Oberleitungen geriet auch die Zeugenvorladung in Berlin zur Farce. Eine Zeugin erschien zunächst nicht zur Befragung und nahm stattdessen an einer Protestkundgebung mit einer „Goldenen Hakenkralle“ vor der französischen Botschaft in Berlin teil – in einem gelben Affenkostüm mit einem Schild gegen Atomtransporte auf dem Rücken. Trotz Maske wurde sie von der Polizei erkannt und, immer noch verkleidet, zwangsweisevorgeführt.
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