Frankreich – kein Waffenstillstand für den 11. November

Dieser Artikel erschien in der letzten Cette Semaine (Dezember 08, anarchistische Zeitung aus Frankreich). Er wirft einen kritischen Blick auf die Ereignisse vom letzten November – besonders anhand von Begriffen wie Solidarität, Repression und sozialen Kämpfen wie auch ihrer Verbindungen untereinander.

Was uns als Anarchist_innen besonders am Herzen liegt ist Kritik/Selbstkritik und ein solidarischer Umgang damit. Dementsprechend publizieren wir hier diesen kritischen Blick um Diskussionen anzuregen, Austausch zu ermöglichen und solidarische Auseinandersetzungen zu entwickeln die uns alle hoffentlich in unserem Kampf gegen die Gegenwart voranbringen können. Trotzdem sind wir ziemlich sicher, dass viele Leute die in diesem Text ausgedrückten Positionen als "unmöglich" oder "unsolidarisch" ansehen werden. Uns geht es aber genau darum auch hier in Deutschland zu zeigen, dass Wege der Solidaritätsarbeit vielfältig sind und dass z.B. der große Aufschrei nach Unterstützung von Medien oder Politiker_innen, wenn jemand einfährt, für uns gar keine vernünftige Möglichkeit als Anarchist_innen darstellt. Denn unsere Solidarität drückt sich auf der Straße aus, wo Leute kämpfen und direkte Aktionen stattfinden.

ABC Berlin

"Wir dürfen nicht vergessen, dass es eine Frage von Leben oder Tod ist, die sich für sie stellt: Falls sie die Maschinen nicht stoppen , werden sie einer Niederlage begegnen. Den Brunnen ihrer Hoffnungen, -die Sabotage- schöpfend besitzen sie große Möglichkeiten hin zum Erfolg zu kommen, hierbei jedoch werden sie auf die bürgerliche Empörung und deren beleidigende Schimpfworte stoßen. Abgesehen vom Interesse am Spiel, ist es verständlich, dass sie solchen Situationen mit leichtem Herz entgegen gehen und dass die Angst vor Verunglimpfungen seitens der Kapitalisten und ihrer Knechte sie nicht dazu bringt auf ihre Siegesmöglichkeit, die einfallsreiches und mutiges Handeln ist, zu verzichten."

Emile Pouget, Sabotage, 1911

Alle oder fast alle kennen nun die Ereignisse. Am 8.11. haben einige gut platzierte Hakenkrallen die Oberleitungen der Bahn an vier verschiedenen Punkten beschädigt, dadurch wurde Chaos produziert und 160 TGV-Züge aufgehalten.
Am 11.11. verhaftete die Polizei unter heftigem Blitzgewitter der Medien zehn vermeintlich Schuldige in verschiedenen Städten und Dörfern. Nach dem 96 stündigen Verhör werden neun der "Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung mit terroristischer Zielsetzung" beschuldigt und fünf davon eingeknastet, drei von ihnen zusätzlich aufgrund "gemeinschaftlicher Sachbeschädigung". Seit dem 2.12. sitzen noch zwei im Knast von denen einer als "Chef" der sog. Vereinigung beschuldigt wird.
Die Anwesenheit der Journalist_innen am Morgen der Durchsuchungen, die die folgenden Tage für die Denunziation und Verleumdungen gegen die sog. "Anarcho-Autonomen" in den Massenmedien verantwortlich sind, zeigen nochmal wie sie ein Bestandteil des Dispositiv "Antiterrorismus" sind. Gierig nach Sensationen, mit Personalisierungen spielend und Meldungen, die besser im Müll gelandet wären, sorgen sie für die erfolgreiche Manifestierung der Operation, die von der Innenministerin angesetzt wurde. Die Erfahrung der vergangenen Kämpfe sind auf keinen Fall zu leugnen: solche Aasgeier sind Feinde, die im Dienste der Herrschaft stehen.

Auch wenn es ein paar Naive oder Dumme gibt, die denken, dass die Medien irgendwelchen Einfluss auf die "öffentliche Meinung", per Definition imaginär und deshalb nach belieben formbar, haben könnten, ist mensch nicht überrascht von der beschränkten Denkweise wonach wir nur wenn wir mit dem Feind kollaborieren ihm auch schaden können. Während der aktuellen Phase der institutionellen Lüge, beobachten wir den progressiven Aufbau der Figur von "guten" und "bösen" Terrorist_innen.

Die ersten, dienstbaren Protagonist_innen, Angehörige von ländlichen Gemeinschaften und gute Student_innen, schaffen einen Altar gegen alle anderen, die nicht dem richtigen Bild entsprechen oder sich ganz einfach weigern eine weiße Weste zu zeigen, sobald die Macht sie dazu auffordert.

Weit entfernt von den öffentlichkeitswirksamen Anklagen durch gewählte Politiker_innen, Interviews und Gerede über die Existenz oder nicht Existenz von "Beweisen", vergammeln einige andere Genoss_innen (aufgrund von DNA-Spuren) wegen des vermeintlichen Versuchs ein Polizeiauto anzuzünden schon seit mehreren Monaten im Knast, auch sie beschuldigt den "Anarcho-Autonomen" anzugehören. Andere, einige davon illegalisierte Migrant_innen, wurden eingesperrt, weil sie beschuldigt werden den Abschiebeknast in Vincennes angezündet zu haben, was anhand von Videomaterial nachgewiesen werden soll. Andere aus Villiers-le-Bel entgegen diesen "Unschuldigen" schuldig weil sie versuchen außerhalb der Lohnarbeit zu Überleben werden täglich mit der Anschuldigung "kriminelle Vereinigung" konfrontiert. A priori, stellen sich die einen nicht den anderen entgegen. Außer wenn mensch die Kategorien der Macht zu ihrer/seinen eigenen macht. Macht die das einzige ist, was kategorisiert was terroristisch ist und was nicht.
Außer wenn mensch die Trennung zwischen "politischen" und "sozialen" Gefangenen bestätigt.
Außer wenn mensch mit Absicht vergisst – schon wenn mensch sich die Namen der meisten Unterstützer_innen anguckt ("für die Tarnac 9"), dass andere schon früher gefallen sind und andere vielleicht nachkommen werden.
Außer wenn mensch bereit ist, im Namen der "Unschuld" die "Schuldigen" (obwohl "die Beweise" und die "innere Überzeugung" der Hoheit juristischer Begrifflichkeitsdeutung unterliegen – ob wir damit einverstanden sind oder nicht), die täglich erwischt werden, aufzuopfern.
Außer wenn wir irgendwelchen Nutzen daraus ziehen, wenn wir den Herrschenden helfen und de facto eine Trennungslinie zwischen die "guten" und die "bösen" ziehen: zwischen denjenigen, die sich lustvoll zum Hauptgebäude einer Zeitung begeben, um über ihr Leben zu berichten und oft auch über das der anderen, und die, die vorm Mikrofon schweigen, zwischen denjenigen, die sich als berufliche Intellektuelle vom Staat bezahlen lassen und denjenigen, die mit jeglicher Form von Spezialisierung brechen wollen. Zwischen denjenigen, die ihre Meinungen in Plena mit gewählten Politiker_innen teilen und denjenigen, die Parteisitze angreifen. Um es kurz zu halten, zwischen denjenigen, die mit der Macht reden und denjenigen, die definitiv unbeugsam sind. Verrückte, die trotzig die Macht angreifen anstatt sie zu reproduzieren (mit ihren Kategorien, ihren Rollen und Hierarchien) – eine Reproduktion kann nur mit ihrer Verstärkung enden.
Aber lasst uns zu den Fakten zurückkommen. Bedeutet gegen die Demokratie zu sein und für eine freie Selbstorganisierung zwischen Individuen, gegen jegliches repräsentative System vielleicht auch "Terrorist_in" zu sein"
Die Sabotage zu verteidigen, genauso wie alle anderen Instrumente des Kampfes, ohne Hierarchien jeglicher Art – bedeutet das "Terrorist_in" zu sein?
Konsequent für die totale Zersörung von Staat und Kapital zu kämpfen, also Anarchist_innen zu sein, bedeutet "Terrorist_innen" zu sein?
Böse Absichten zu haben, sie zu unterstützen und darüber zu schreiben, bedeutet "Terrorist_innen" zu sein?
Während der Kämpfe Mittäter_innen zu entdecken, mit ihnen Affinitäten zu entwickeln bedeutet an sich eine "kriminelle Vereinigung" zu sein?
Wenn das der Fall ist, dann drei mal "ja". Wir übernehmen lauthals die Verantwortung für unsere Leidenschaft für Freiheit und die Folgen, die sich daraus ergeben. Die selbe Leidenschaft, die viele Unbekannte bewegt. Leute, die weit entfernt von den medialen Sirenen täglich gegen die Herrschaft kämpfen.
In dieser Welt, die auf Ausbeutung, Umweltzerstörung, Krieg und Miseren basiert, ist es sicherlich nicht als kriminell zu bewerten untätig zu bleiben, wartend auf den Moment, in dem alles untergeht oder zynischerweise die Momente zu zählen und dabei zu hoffen, dass jede_r für sich zurechtkommt, vereinzelt jede_r in ihrem/seinen kleinen Käfig. Die Demokratie, das System zur mehr oder weniger autoritären Führung des Kapitalismus ist nicht das schlimmste System. Bis jetzt hat die Demokratie vor allem Beweise für ihre Pleite erbracht: Die Welt, die sie dominiert bleibt eine Welt der Unterwerfung und Entbehrungen. Es handelt sich um ein System, das vorgibt an der Verwaltung von Desastern mitbeteiligt sein zu können und zwar an seiner Selbstaufhebung, dabei die Gesellschaft anstachelnd sich in Klassen aufzuteilen, dies zu verdecken – indem die Widersprüche durch die permanente Befriedung – absorbiert werden. Auf die selbe Art und Weise ist der Staat eben nicht das neutrale Instrument, das den Markt reguliert. Er ist vielmehr einer seiner Verbündeten wie zu Zeiten der "Finanzkrise" wieder deutlich wird, wo massive Geldspritzen die Banken und Unternehmen retten sollen während sich die Umstände der Ausbeutung verschlimmern und das Durchhalten bis zum Ende des Monats immer schwieriger wird.
Ja, wir wollen den Staat abschaffen, ihn nicht erobern, denn er ist wie seine Knäste, seine Bullen und seine Gerichte, die bloß seine Spiegelbilder sind, eine der Säulen der tödlichen Welt. Was den Kapitalismus angeht, der vor allem ein soziales Gefüge ohne Herz und Gefühl ist, liegt es an uns allen ihn in seinen täglichen Erscheinungen zu bekämpfen In der sog. "globalisierten" Ökonomie, die auf permanente Zirkulation basiert, hat der Warenfluss (menschlicher wie auch nicht-menschlicher) an großer Bedeutung gewonnen.
Es ist deshalb normal, dass das Blockieren dieses Flusses wieder überall aufgetaucht ist und die Kämpfe der letzten Jahre wenn sie auch keine harten Schläge erzielen konnten doch wenigstens zur Grundsteinlegung neuer Machtbeziehungen gedient haben. (von der CPE bis zum Bahnarbeiter_innenstreik Februar 2008 in Frankreich, aber auch der Bahn in Deutschland 2007 oder in Val di Susa in Italien 2005). Solche antikapitalistische Kritik, die sich über die direkte Aktion ausdrückt und die von sehr vielen Intellektuellen als unnütz, überholt oder kriminell verurteilt wird, wurde von vielen Ausgebeuteten in ihren Kämpfen erprobt. Das Blockieren der TGVs (durch Beschädigung der Oberleitungen oder Brand der Kabel wie im November 2008) – diese zerstörerischen Maschinen, die auch dafür verantwortlich, dass sich der Warenfluss beschleunigt – war kein Zufall sondern Frucht der gemeinsamen Erfahrungen der letzten sozialen Kämpfe.
Ohne zu behaupten, dass Sabotage keine vielseitige Praxis wäre, hat sie ihren Ursprung doch immer im Herzen der Ausbeutung selbst – sei es um der/dem Chef_in Zeit zu stehlen oder um Sachschaden gegen die Dinge anzurichten, die uns jeden Tag mehr unterdrücken.
Wovor die Macht Angst hat ist nicht die Art, die den Gewerkschaften zuzuordnen ist, Demonstrationen in Zeiten der Untätigkeit abzuhalten sondern diffuse und anonyme Handlungen zu propagieren, die sich in den permanenten sozialen Krieg einschreiben ohne jegliche Art der Trennung. Und genau in den Momenten, in denen der Druck gegen die Dissident_innen der wirtschaftlichen Demokratie aufsteigt sieht die Macht keine anderen Auswege als ihre Vergangenheit, Ideen oder einfach ihre Widersprüche zu negieren. Solch permanente Erpressung abzulehnen, wird auch zu einer Frage der Integrität – eine der wenigen Sachen, die uns der Staat nicht wegnehmen kann.
Wer auch immer die Urheber_innen der Sabotage des vergangenen Novembers sein mögen – wir drücken unsere Solidarität mit ihren Handlungen aus. Auf die gleiche Art und Weise wollen wir nicht einfach Unterstützung gegen die Repression, die vorgibt eine "unsichtbare Zelle" zerschlagen zu haben, anbieten, die sowieso nur außerhalb und relativ dazu steht, was sie denn nun sein mögen oder mensch denkt sie wären es tatsächlich. Sondern eine Solidarität gegen den Staat und all seine Knechte. Eine Solidarität, die wie die Revolte nicht exklusiv sein kann sondern sich an all diejenigen richtet, die für die Freiheit kämpfen. Wenn die Unschuldigen unsere Solidarität verdienen, dann die Schuldigen noch mehr!

Anarchist_innen trotz allem

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