Nach drei Wochen durchatmen, nachdenken und intensivem Lesen von allem, was zu diesem Fall geschrieben wurde, während wir im Knast waren, nehme ich nun diesen Brief in Angriff. Denn vor etwas mehr als drei Wochen bin ich ein wenig verstört aus dem Knast von Fresnes entlassen worden. Angesichts einer so wohl inszenierten Operation hatte ich schon gar nicht mehr erwartet, so bald frei zu kommen. Natürlich war es eine riesige Erleichterung, wieder draussen zu sein; der Knast wird so schnell zum Alltag, dass man fürchtet, sein ganzes Leben hinter Mauern und Gittern verbringen zu müssen, und das Eingeschlossensein wirkt wie eine Ewigkeit, auch wenn es schliesslich nur zwei oder drei Wochen waren. Ich möchte allen, die sich für unsere Freilassung eingesetzt haben, ganz herzlich danken. Ich bin sicher, dass der Druck, der aufgebaut wurde (von den Unterstützungskomitees, den Eltern, den Freunden und allen, die sich von diesem Fall betroffen fühlen), trotz der Willkür der Justiz auf irgend eine Art dazu beigetragen hat. Natürlich hätte ich diesen Brief lieber zusammen mit meinen mitangeklagten Freunden und Genossen verfassen wollen – aber wie ihr wisst, ist es uns unter Androhung, wieder im Knast zu landen, verboten, auf jegliche Art Kontakt miteinander zu haben.
Natürlich lässt es mir keine Ruhe, dass zwei von meinen Freunden und Genossen noch immer aufgrund unglaublicher Begründungen in Haft sind. Ebensowenig kann ich vergessen, dass meine Freilassung auch gewissen Umständen, einem gewissen „Glück“ zu verdanken ist. Ich bin weiss, habe ein Diplom machen können, meine Eltern und Freunde stammen aus eher „privilegierten“ Kreisen – und Proteststimmen aus einem solchen Umfeld werden zweifellos eher gehört. „Chancen“ also, die andere Inhaftierte, die anderswo und in anderen Milieus geboren worden sind, nicht haben – und das aus wohlbekannten Gründen. Die französischen Gefängnisse haben während der letzten Jahre einen guten Teil der marginaliserten Jugendlichen dieses Landes verschlungen. Menschen, die als nicht assimilierbar gelten, ständig belästigt werden, immer schon schuldig sind und die sich weigern, in die stickigen Ränge dieser Gesellschaft zurückzukehren. Im Knast ist nicht zu übersehen, dass die grosse Mehrheit der Inhaftierten aus den Vororten stammt. Einige von ihnen scheinen geradezu auf den Knast abonniert zu sein. Auffällig ist auch die unerhört grosse Zahl an Menschen, die für sehr lange Zeit in Untersuchungshaft gehalten werden. So sitzen unter dem Regime der Untersuchungshaft – eigentlich als Ausnahme deklariert – viele für sechs Monate, neun Monate, ein Jahr, zwei, ja drei Jahre in Haft– ohne Prozess und oft ohne handfeste Beweise. Denn zweifellos ist es viel komplizierter, „glaubwürdige Zeugenaussagen“ und den Nachweis einer legalen und geregelten Existenz aufzutreiben, wenn man aus den Vororten Villiers-le-Bel, Aubervilliers oder Bagneux stammt, die Eltern der Sprache der Staatsanwaltschaft und der Medien nicht mächtig sind, über keine anerkannte und dauerhafte Arbeit verfügen und als Ausländer abklassifiziert werden.
Solidarität wird jedoch auch hinter den Knastmauern geschmiedet. Die Strafpolitik dieser Regierung ist dabei, eine Zeitbombe zu produzierten: Je mehr die Knäste dieses Landes bis zum Platzen vollgestopft werden, desto mehr Schicksale werden sich dort kreuzen und die verschiedenen Milieus verknüpfen, die draussen fein säuberlich voneinander getrennt gehalten werden.
Die Ähnlichkeit zwischen den politischen, polizeilichen und medialen Vorgehensweisen im Fall Tarnac und in jenem von Villiers-le-Bel vom letzten Jahr wird an verschiedenen Punkten offensichtlich…
November 2005 (Clichy sous Bois), CPE, Präsidenschaftswahl, Villiers-le-Bel, LRU…: zwei Bewegungen aus unterschiedlichen Milieus nähren gemeinsam die Paranoia der Mächtigen. Die Antwort lässt nicht auf sich warten und verfolgt in beiden Fällen die selbe Taktik. „Kampf der Macht der Banden“, um die Repression nach den Ausschreitungen in den Vororten zu rechtfertigen, und das Heraufbeschwören des Schreckgespenstes „anarchistisch-autonome Bewegung“ und „ultralinke Gruppen“ , um gegen die diffusen Revolten der studierenden und prekarisierten Jugend vorzugehen. In beiden Fällen handelt es sich um die Inszenierung eines „inneren Feindes“, die in grossangelegten und medial aufbereiteten Polizeieinsätzen gipfelt. Unverhältnismässige Machtdemonstration, mediale Moralapostel, Einkerkerung. Muss daran erinnert werden, dass neben den vielen Angeklagten und Inhaftierten vom November 2005 auch immer noch fünf von den Verhafteten von Villiers-le-Bel im Knast sitzen und auf einen Prozess warten, der – mangels Beweisen – nicht stattfindet? Heute sind wir an der Reihe, doch die Jagd auf sogenannt „Anarcho-Autonome“ ist schon vor einem Jahr eröffnet worden. Mindestens sechs Menschen sind seit Dezember 2007 mit Hilfe der Antiterrorpargraphen angeklagt worden, und das aufgrund von Sachverhalten und Verdächtigungen, die vorher nie eine derartige Anklage nach sich gezogen haben. Der Schraubstock wird angezogen, alle Mittel scheinen nun erlaubt zu sein.
Die Unterstützungskomitees haben schon weitgehend dargelegt, in wie fern der Rückgriff auf die Antiterrorparagraphen eine markante Veränderung der Regierungsmethoden und der „Verwaltung“ des Widerstands bedeutet. Was wir in den letzten Jahren schon in anderen Ländern (USA, Grossbritannien, Deutschland, Italien…) beobachten konnten, spielt sich nun auch in Frankreich ab und markiert den Eintritt in ein Regime, wo die Ausnahme zur Regel wird. Diese Verfahren haben meist nichts mit „Terrorismus“ zu tun, welche Definition man ihm auch immer geben mag, sondern folgen einer uralten Logik: einen fertigmachen, um hundert andere einzuschüchtern. In andern Zeiten hätte man beispielsweise „einige“ vor dem Stadttor gehängt.
In unserem Fall kann man sehr schnell feststellen, dass „der Fall der Sabotageakte auf die SNCF“ nur ein Vorwand ist, eine grossangelegte und von langer Hand geplante (seit dem Amtsantritt von Michèle Alliot-Marie im Innenministerium) Medienoffensive und präventive Neutralisierung in Gang zu setzten. Die Überstürztheit, mit der die „Operation Taiga“ durchgeführt wurde, und das fast vollkommene Fehlen von Beweismitteln – selbst nach den Hausdurchsuchungen und den Verhören – führt allen, die nicht damit beschäftigt sind, mit den Wölfen zu heulen, sehr schnell die Plumpheit der polizeilichen Vorgehensweise vor Augen. Zwar wurden durchaus Anstrengungen unternommen, die fade Angelegenheit ein wenig aufzupeppen: „klandestiner Aussteigerzirkel“, ein „unangefochtener Chef“, sein „rechter Arm“, seine „Gefolgsmänner“, „freundschaftliche Beziehungen“, die im Dorf „rein strategisch“ unterhalten wurden. Doch nichts zu machen, die Menschen in Tarnac glauben nicht an das, was im Fernsehen gezeigt wird, sondern an das, was sie in den letzten Jahren erlebet haben.
Ist die Frage der Beteiligung an den Sabotageakten auf die SNCF für jeden einzelnen einmal geklärt, bleibt die Anklage der „kriminellen Vereinigung mit terroristischer Zielsetzung“. Dies ist im Übrigen bei den meisten von uns die einzige Anklage, die auf uns lastet, so auch bei mir. Diese Anklage beruht auf einem Bündel wild zusammengewürfelter Informationen und Hypothesen, die vom Geheimdienst zusammengetragen wurden, und nur eine fantasieentflammte Polizeiprosa vermag sie auf eine solch einseitige Art zu verknüpfen. Freundschaftliche Verbindungen, jede auf ihre Art politisch, werden umgehend und ohne den geringsten Zweifel als Zugehörigkeiten zu einem organisierten, sprich hierarchischen Zirkel ausgelegt. Aus einigen Zusammenkünften, der Anwesenheit von einigen von uns an Demonstrationen und der Teilhabe von anderen an sozialen Bewegungen der letzten Jahre werden die Konturen einer identifizierbaren und als „Zelle“ isolierbaren Gruppe geformt. Dies entspricht nicht der Wahrheit und ist in einiger Hinsicht widersprüchlich zu dem , was wir auf unterschiedliche Art im Laufe der letzten Jahre mitgetragen haben .
Die Anklage der „Vereinigung“ erlaubt es, mit einem einzigen Schlag die gesamte Existenz der anvisierten Menschen ins Verfahren einzubeziehen. Alles kann zum Indiz werden: Lektüre, gesprochene Sprachen, Fertigkeiten, Bekanntschaften im Ausland, Mobilität, Absenz von Handys, Bruch mit seinem beruflichen oder privaten „Karriereplan“, Liebesleben usw.
Der Rückgriff auf die Antiterrorparagraphen ist letztendlich nichts anderes als ein Zeichen der Aggressivität, die jeder Macht , die sich von allen Seiten bedroht fühlt, eigen ist. Es geht nicht so sehr darum, sich deswegen zu empören. Es geht viel mehr darum, sich nicht oder nicht mehr von der Vorgehensweise der politischen Polizei täuschen zu lassen. Es ist nur der Versuch der Machthaber‚ ihre eigene Paranoia, die vielleicht gar nicht ganz aus der Luft gegriffen ist, dem „Sozialkörper“ einzuschreiben.
Rund um diesen Fall wird viel vom Essay„L’insurrection qui vient“ gesprochen, und alle sind ganz wild darauf aufzudecken, WER hinter dem „comité invisible“ steckt. Diese Frage ist nur aus einer rein polizeilichen Sichtweise heraus interessant. Die Entscheidung, anonym zu bleiben, ist meiner Meinung nach nicht als Paranoia der Autoren zu verstehen (obwohl sich eine solche Paranoia heute hundertfach bestätigt sehen würde), sondern als Beharren auf einer essentiell kollektiven Stimme. Nicht die Stimme eines Autorenkollektivs, das man wieder in die Einzelteile zerlegen könnte, sondern als Stimme, die einer ganzen Bewegung angehört, wo die Gedanken nicht mehr einem einzelnen als Autor zugeschrieben werden können.
Dieses Buch ruft viele Meinungsverschiedenheiten und viel Missbilligung hervor, auch unter uns, die wir durchaus den Versuch unternommen haben, es zu lesen und zu verstehen. Mir scheint, dies ist genau der Zweck von politischen Schriften: das, was diskutiert werden soll, unverzüglich in den Mittelpunkt stellen, es unumgänglich machen – auch auf die Gefahr hin, sehr direkt und vielleicht auch undifferenziert zu sein.
Alle, die behaupten zu wissen, wer der Autor dieses Buches ist, lügen schlicht weg oder halten ihre Hypothesen für die Realität.
Die Lektüre dieses Buches wirft oft, insbesondere bei der Polizei und bei Kriminologen, die Frage der „Radikalität“ auf. Diese „Radikalität“ wird uns als Charakterzug zugeschrieben, und darauf beruht die Anklage, auch wenn das natürlich nicht so dargestellt wird. Ich fühle mich nicht besonders radikal, im Sinne einer Bereitschaft, die Gedanken und die Handlungen in Einklang zu bringen (was leider seit langem niemand mehr macht). Hingegen ist die aktuelle Situation radikal, und sie spitzt sich immer mehr zu. Sie bringt diffuse, sich radikalisierende Bewegungen hervor, die nicht auf einige wie auch immer geartete Politgrüppchen angewiesen sind. Jeden Tag, bei meiner Tätigkeit im Laden und im Bistro, und nicht zuletzt im Knast, diskutiere ich, höre ich zu, was gesagt, gedacht, gefühlt wird, und manchmal fühle ich mich eher moderat angesichts der Wut, die überall entflammt. Die Angst der Regierung, die soziale Situation könnte ausser Kontrolle geraten, ist zweifellos nicht unberechtigt, doch wir werden ihrer präventiven Schreckenskampagne nicht zuträglich sein, denn der Wind dreht bereits. Er kommt vom Mittelmeer.
Es gäbe noch so viel zu sagen, Zweifel zu zerstreuen, Manipulationen zu vereiteln, doch all das ist erst ein Anfang. Meine Position ist im Einklang mit den Unterstützungskomitees, die hier und dort entstehen: Abschaffung der „Antiterrorparagraphen“ („entreprise terroriste“ und „association de malfaiteurs“), sofortige Freilassung von Julien und Yldune und allen, die mittels dieser Paragraphen festgehalten werden, mal als Anfang …
Es komme der Moment, wo die Rechnung beglichen wird für das, was man uns angetan hat, aber auch für das, was nur eine zusätzliche Provokation ist, gerichtet an alle, die sich nicht mit dem aktuellen Desaster abfinden.
Benjamin
Januar 2009
per email, thx!